Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Alteuropa-Trilogie 1 - Im Jahr der Pferde

Titel: Alteuropa-Trilogie 1 - Im Jahr der Pferde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mary Mackey
Vom Netzwerk:
nebeneinander, sorgfältig zusammengesetzt wie die Teile eines Puzzles. Die Fingerknochen des einen berührten die Fingerknochen des anderen, als hielten sich die Mitglieder derselben mütterlichen Familie selbst im Tod noch bei den Händen. Es gab keine Kinder, denn wenn Kinder starben, die weniger als sechs Monate alt waren, wurden sie unter den Böden der Langhäuser beerdigt, aber es gab Skelette von jüngeren Kindern, die sich Rücken an Bauch aneinanderschmiegten, als schliefen sie alle im selben Bett.
    Seit dem letzten Fest der Toten waren nur drei Leute in Xori verstorben: ein alter Mann namens Bizkar, der im Dorfrat gesessen hatte; eine Frau namens Koskor, die im Kindbett gestorben war; und Pentsatu, ein neunjähriges Mädchen, das im letzten Jahr der Sommerkrankheit zum Opfer gefallen war. Schweigend half Marrah Ama und den anderen Frauen, die Beutel zu leeren und die drei Skelette wieder zusammenzufügen.
    Als sie fertig waren, verteilten die Frauen fein gemahlenen roten Ocker über den Knochen, um das fruchtbare Blut des Lebens zu symbolisieren, knieten einige Augenblicke nieder, berührten den Boden und beteten. Dann erhob sich Ama auf die Füße, griff in ihren Lederbeutel und zog drei kleine Gegenstände heraus. Neben Bizkar legte sie eine steinerne Pfeilspitze, denn er war in seiner Jugend ein guter Jäger gewesen; neben Koskor legte sie eine einzelne blaue Perle, weil Koskor immer den Himmel und die See geliebt hatte; und Pentsatu bekam ein paar buntschillernde Federn der Sorte, die in ihr Haar geflochten worden wären, hätte sie lange genug gelebt, um zur Frau zu werden.
    Es war eine bewegende Zeremonie, aber nachdem sie vorbei war, war Marrah froh, wieder nach draußen in den Sonnenschein zu kommen. Als sie aus dem
alu
trat, atmete sie tief durch und füllte ihre Lungen mit frischer Luft. Der Mutterschoß der Ruhe mochte zwar der heiligste Ort in Hoza sein, doch sie war erleichtert, daß es wenigstens drei Jahre dauern würde, bis sie das Innere erneut sah. Vielleicht bin ich doch nicht dazu geeignet, Priesterin zu werden, dachte Marrah, als sie und die anderen Frauen schweigend an den heiligen Feuern vorbeigingen und dann die lange Reihe der Göttinnenstandbilder entlang, um ihre Hände im Meer zu waschen. Sie spritzte sich kaltes Seewasser ins Gesicht und leckte die salzigen Tropfen von ihren Lippen. Sie mochte nun einmal lebendige Dinge: das Gefühl des Windes in ihrem Haar, den Geruch des Seetangs, das rauhe Knirschen von Kieselsteinen unter ihren Füßen. Wie schön das Leben ist! dachte sie.
    Die Segnung der Toten dauerte eine ganze Weile. Als die Zeremonie schließlich vorbei war und alle Knochen in den Mutterschoß der Ruhe getragen worden waren, zog sich Mutter Asha in ihr Zelt zurück, aß eine Kleinigkeit, machte ein ausgiebiges Nickerchen und humpelte dann auf die Plattform zurück, um sich die Anliegen und Beschwerden der Dorfbewohner anzuhören. Bis Ama aus Xori vortrat, um von dem Fremden zu berichten, der an ihren Strand angeschwemmt worden war, hatte die »Mutter aller Familien« schon fast den ganzen Nachmittag lang Ratschläge erteilt und Gerechtigkeit walten lassen, und inzwischen war sie erschöpft, aber es war ihre Pflicht, die Probleme ihrer Kinder zu lösen, und so saß sie geduldig da und hörte aufmerksam zu, während sie mit Wasser verdünnten Fruchtsaft trank, um einen klaren Kopf zu behalten.
    Ama berichtete in aller Ausführlichkeit. »Und das ist die Geschichte, wie Marrah den Fremden fand«, schloß sie. »Jetzt müssen wir dringend wissen, was als nächstes geschehen soll. Wie ich schon sagte, paßt er nicht direkt in meine Familie oder in irgendeine Familie, was das betrifft. Andererseits fällt es uns schwer, ihn völlig abzulehnen. Er hat auch seine guten Seiten.«
    Sie öffnete ihre Hand und hielt Asha das Spielzeugtier hin, das der Fremde für Arang geschnitzt hatte. »Das hier hat er für meinen Urenkel gefertigt. Er ist sehr geschickt im Umgang mit einem Messer.« Sie hielt es für besser, nichts davon zu erwähnen, daß einige ihrer Leute befürchteten, er könnte zu geschickt damit sein, wenn er wieder zu Kräften gekommen war. Dann wies sie auf den Fremden, der wenige Schritte entfernt stand und seinen Blick zwischen ihr und Mutter Asha hin und her schweifen ließ, als erwartete er, ein plötzliches Wunder würde ihre Unterhaltung für ihn verständlich machen.
    »Ich muß gestehen, daß es mir lieber wäre, wenn irgendein anderes Dorf ihn aufnehmen

Weitere Kostenlose Bücher