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Alteuropa-Trilogie 1 - Im Jahr der Pferde

Titel: Alteuropa-Trilogie 1 - Im Jahr der Pferde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mary Mackey
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einer anderen Frau die Ehre übertragen. Tatsächlich war die einzige Qualifikation für das Amt der »Mutter aller Familien«, daß man sich nicht darum bewerben konnte; es mußte einem praktisch aufgedrängt werden.
    Nun, aufgedrängt haben sie es mir, das kann man wohl sagen, dachte Mutter Asha, als sie zwei der jüngeren Frauen herwinkte, damit sie ihr auf die Füße halfen. Die jüngeren Frauen, von denen eine dreiundfünfzig war und die andere fast sechzig, griffen ihr energisch unter die Arme und zogen sie behutsam auf die Füße. Als die Zuschauer sahen, daß sich die Mutter erhob, breitete sich Schweigen aus, und alle wandten sich zu ihr um und blickten sie an, die Gesichter wie erwartungsvolle Kinder zu ihr erhoben.
    Mutter Asha räusperte sich. Als sie zu sprechen begann, war ihre Stimme klar und fest und nur in den höheren Tonlagen eine Spur zittrig. »Meine lieben Kinder«, sagte sie, »wir werden jetzt damit anfangen, die Gebeine jener, die wir lieben, in den Mutterschoß der Ruhe zu bringen.« Sie ließ ihren Blick von einer Dorfgruppe zur nächsten schweifen und fragte sich, wo sie beginnen sollte. Es hatte in diesem Jahr nicht viele Todesfälle gegeben, aber selbst einer war schon zuviel.
    »Bringt die Gebeine eurer Lieben zu mir«, rief sie und winkte den Leuten des Dorfes Shiba zu, des kleinsten und am weitesten entfernten Dorfes. »Laßt mich sie ein letztes Mal in ihrem Namen segnen.«
    Als die Dorfbewohner von Shiba mit zwei Beuteln voller Knochen vortraten, ging eine Veränderung mit Mutter Asha vor sich.
    Sie mochte vielleicht die Aufstellung einer neuen Göttinnenstatue mit milder Langeweile verfolgen, nachdem sie die Zeremonie nun schon zum achtundzwanzigsten Mal miterlebte, aber die Segnung der Toten war eine völlig andere Sache. Während die Dorfbewohner vor ihr niederknieten, die Beutel aufzogen und die Knochen zum letzten Mal im Sonnenlicht ausbreiteten, fühlte Asha den Geist der Göttin Erde durch die Seelen zu ihren Füßen aufwärtsströmen. Wie ein Blitzschlag schoß die göttliche Kraft durch ihren Körper und erfüllte sie mit ihrer Gnade, bis sie nicht länger eine alte Frau war, gefangen in der welken Haut einer alten Frau, sondern die Botschafterin der Göttin selbst.
    »Ruht in Frieden«, rief sie den Geistern der Toten zu und vollführte eine segnende Handbewegung über den Knochen. »Schlaft, wie ihr als Kinder geschlafen habt, im Schoß einer Mutter, die euch liebt.«
    Sie segnete die Toten, Dorf für Dorf. Nachdem sie die heiligen Worte gesprochen und mit der Hand über die Knochen gestrichen hatte, sammelten die Dorfbewohner sie wieder ein und trugen sie in den Mutterschoß der Ruhe durch einen der elf steinernen Gänge, die Alus genannt wurden. In der Regel durften nur Frauen durch die Alus gehen. Das Küstenvolk glaubte, da es die Frauen waren, die Menschen zur Welt brachten, sollten sie auch diejenigen sein, die sie wieder aus dieser Welt herausbrachten, aber wenn ein Mann Priester geworden war, dann durfte auch er eintreten, und es gab mehrere Männer, die an diesem Nachmittag dabei halfen, ihre Freunde und Verwandten zur letzten Ruhe zu betten.
    Die Wände der Alus waren mit heiligen Schnitzereien verziert, die im Fackelschein zu tanzen schienen: mit Dreiecken, Schlangen, Fruchtbarkeitssymbolen, um die Trauernden daran zu erinnern, daß mitten im Tod immer Leben existierte; mit dem Symbol eines Hirtenstabs, denn sie behütete ihre Schar wie eine Hirtin; und immer mit Bildern der Göttin selbst, manchmal mit entblößten Brüsten und einer Halskette dargestellt und manchmal auf ihre alles sehenden Augen reduziert.
    Jeder der Alus endete in einem kreisrunden, in der Form an einen Mutterleib erinnernden Raum, der mit weißen Steinen ausgekleidet und gepflastert war. Keine zwei Räume waren genau gleich; einige hatten gewölbte Decken, andere wurden durch große Granitplatten abgestützt, und wieder andere waren in kleinere Kammern unterteilt, aber alle hatten drei Dinge gemeinsam: Dunkelheit, Stille und Frieden.
    Doch trotz der Stille und des Friedens war Marrah so erschrocken, als sie zum ersten Mal einen der Räume betrat, daß sie abrupt stehenblieb und damit beinahe Ama zum Stolpern gebracht hätte, die dicht hinter ihr folgte. Der Raum war kühl und roch nach Weihrauch und feuchter Erde. Die Knochen der Toten lagen überall – etwas, womit sie gerechnet hatte –, aber sie hatte nicht erwartet, daß sie so liebevoll arrangiert sein würden. Die Skelette lagen

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