Alteuropa-Trilogie 1 - Im Jahr der Pferde
zeremoniellen Äxte aus Jadit, mit denen überall entlang der Küste Handel getrieben wurde. »Hega und ihre Leute sind mit einer seltsamen Last hergekommen.« Mutter Asha deutete auf Marrah und Ama. »Hega, dies hier sind zwei Töchter aus Xori, und in ihrer Begleitung ist, wie du sehen kannst, der Fremde, den sie an ihrem Strand gefunden haben.«
Hega blickte den Fremden an und schüttelte den Kopf. »Ich kann es einfach nicht glauben«, sagte sie. »Möge die Göttin Erde mich in ihren Mutterschoß aufnehmen, wenn ich jemals in meinem Leben etwas so Außergewöhnliches gesehen habe.« Sie war eine füllige Frau mit schweren Brüsten, einem runden Gesicht und scharfen Augen, die aussah, als könnte sie eine ganze Schar von Enkelkindern hüten, den Vorsitz über einen Dorfrat führen und ihre Familie täglich mit frischem Rehfleisch versorgen, ohne etwas von der Anstrengung zu spüren; doch als sie jetzt sprach, wich alle Farbe aus ihrem Gesicht. »Die Ähnlichkeit ist unglaublich!«
Ama verbeugte sich respektvoll vor Mutter Asha und dann vor Hega aus Zizare, aber ihre Augen verrieten ihre Ungeduld. »Könnte mir mal bitte jemand sagen, was hier vorgeht? Der Bote sagte uns, daß noch ein Fremder gefunden worden wäre.« Sie zeigte auf die Gestalt auf der Tragbahre. »Ist er das ?«
»Ja«, erwiderte Hega, »oder eher das, was noch von ihm übrig ist.« Sie wandte sich an Mutter Asha. »Wenn du mir bitte die Erlaubnis zum Sprechen erteilst, liebe Mutter, dann werde ich dieser Schwester erzählen, was ich dir bereits erzählt habe.«
»Sprich.« Mutter Asha klopfte mit ihrem Gehstock auf die Plattform. »Sprich und vergiß die Formalitäten. Dies ist nicht der richtige Zeitpunkt, um sich mit Förmlichkeiten aufzuhalten.«
Hega räusperte sich und verschränkte die Arme vor der Brust. »Um es kurz zu machen – unter dieser Decke liegt ein Toter. Er sieht wie euer Fremder aus; das gleiche häßliche gelbe Haar, die gleichen blaßblauen Augen, die gleiche Fischbauchhaut. Er ist allerdings noch ein Stück größer, deshalb haben wir ihm den Spitznamen ›der Riese‹ gegeben, und ich würde sagen, er war auch um einiges älter, als er noch auf Erden wandelte.«
»Wo habt ihr ihn gefunden ?« wollte Ama wissen.
»Am gleichen Ort wie ihr, am Strand.« Nachdem Asha ihr befohlen hatte, von Förmlichkeiten abzusehen, war Hega offensichtlich nicht in Stimmung, viele Worte zu verschwenden. »Er wurde nach dem letzten Sturm angeschwemmt, aber gestorben ist er erst vorgestern. Aus diesem Grund sind wir auch so spät hier eingetroffen. Wir hatten eigentlich nicht vor, überhaupt nach Hoza zu kommen, weil wir keine Toten herzuschaffen hatten – oder zumindest glaubten wir, daß wir keine hätten –, und der Riese war eindeutig zu schwach, um die Reise zu machen. Aber als er dann im Sterben lag, entschieden wir, lieber nicht zu warten, um ihn dann auf einen Turm der Stille zu legen, sondern besser gleich nach Hoza aufzubrechen, damit Mutter Asha einen Blick auf ihn werfen konnte. Wir hatten gehofft, es wäre noch ein bißchen Leben in ihm, wenn wir hier ankämen, aber der Fußmarsch dauerte fünf Tage, und die Göttin wollte es anders. Er sah so seltsam aus und trug so viel zeremoniellen Schmuck, daß wir glaubten, er könnte irgendeine spezielle Art von Priester sein. Natürlich hatten wir keine Ahnung, daß es noch andere wie ihn geben könnte, deshalb kannst du dir ja sicher unsere Verblüffung vorstellen, als wir hierherkamen und man uns sagte, daß die Bewohner von Xori ihren eigenen Riesen aus dem Meer gezogen hätten und daß dieser Riese am Leben sei und in einem der Zelte auf der anderen Seite des Lagers säße.«
Alle blickten jetzt auf den Fremden, der in einem Fleckchen Sonnenlicht stand, sich am Kopf kratzte und sich offenbar nicht bewußt war, daß sie über ihn redeten. Es entstand eine verlegene Pause.
»Vielleicht sind sie zusammen gereist«, schlug Ama vor. »Genau das denke ich auch«, stimmte Hega zu.
»Natürlich war es so«, rief Mutter Asha und hämmerte ungeduldig mit ihrem Stock auf das Podest. »Wie sollte es sonst möglich sein, daß zwei so häßliche Männer am selben Küstenabschnitt stranden? «
»Einen guten Tagesmarsch voneinander entfernt«, erinnerte Ama sie.
»Ein Tagesmarsch!« schnaubte Asha. »Was bedeutet diese lächerliche Entfernung denn schon für die Meeresgöttin? Amonahs Reichweite ist unendlich, und ihre Wogen tragen alle Arten von Dingen. Zu meiner Zeit habe ich
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