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Alteuropa-Trilogie 1 - Im Jahr der Pferde

Titel: Alteuropa-Trilogie 1 - Im Jahr der Pferde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mary Mackey
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Samenkapseln vom anderen Ende der Welt an unsere Strände anspülen sehen; ich habe sie Wrackteile von Booten zurückgeben sehen, die seit Generationen verschwunden waren; ich habe die Toten aus dem Schoß ihrer fruchtbaren Dunkelheit auferstehen und schneller reisen sehen als jeder Händler. Die Göttin kümmert sich nicht um Entfernungen, und sie verstreut ihre Gaben, wo sie es will.«
    Sie hob ihren Gehstock und zeigte auf die Tragbahre. »Zieht die Decke zurück und laßt den Fremden aus Xori das Gesicht des toten Riesen aus Zizare sehen. Vielleicht werden wir an seiner Reaktion ablesen können, ob er den Toten erkennt, und wenn es so ist, dann können wir sicherlich daraus schließen, daß sie im selben Boot gesessen und im selben Sturm Schiffbruch erlitten haben.«
    Sie senkte ihren Stock. »Obwohl ich ehrlich gesagt nicht weiß, was uns diese Information nützen sollte. Wir werden immer noch das Problem haben, die Gebeine des einen zur ewigen Ruhe zu betten und für den anderen ein ständiges Zuhause zu finden. Trotzdem, zieht die Decke weg und laßt uns die Sache hinter uns bringen.«
    »Marrah«, befahl Ama, »nimm den Fremden an der Hand und führe ihn zu der Bahre.«
    Marrah tat, wie ihr geheißen. Ihre Hand war kalt vor Aufregung, und als sie den Fremden berührte, zuckte er leicht überrascht zusammen und wandte sich mit einem fragenden Ausdruck in den Augen zu ihr um. »Komm mit«, sagte sie sanft, und als hätte er ausnahmsweise einmal verstanden, folgte er ihr ohne Protest. Bald stand er vor der Tragbahre und blickte mit milder Neugier auf die verhüllte Gestalt.
    »Fertig?« fragte Hega, und ohne auf eine Antwort zu warten, griff sie nach einem Zipfel des Wildleders und zog die Decke mit einer raschen Bewegung zurück. Ein plötzliches Aufblitzen von Gold und Kupfer und Fleisch, so weiß wie Knochen, war zu sehen.
    Vor ihnen lag der tote Riese von Zizare, ein riesiger, schlanker Mann mit einem Gesicht, das wie eine Axtschneide geformt war. Er hatte ein keilförmiges Kinn unter einem gelben Bart, tief eingesunkene Augenhöhlen und schmale Lippen, bläulich verfärbt vom ewigen Winter des Todes. Obwohl sein Haar dünner war und sein Gesicht wettergegerbter, sah er so sehr wie eine ältere Ausgabe des Fremden aus, daß Marrahs erster Eindruck war, sie könnte in die Zukunft sehen.
    Wie der Fremde trug der Tote Kleider aus verfilztem braunen Pelz, seine linke Schulter war mit blauen Sonnen und Blitzen bemalt, und auch er hatte Ringe in seinen Ohrläppchen und Ketten um den Hals, aber was für Ringe und Ketten! Er war nicht mit Kupfer geschmückt, nur mit Tierzähnen und Gold, so viel Gold, daß Marrah ihren Augen kaum trauen konnte: goldene Ohrringe, goldene Ziernägel an seinem Gürtel, Goldintarsien auf dem Heft seines langen Messers, und sogar in die Troddeln an seinen Stiefeln waren Goldfäden eingewebt. Das größte Stück Gold lag direkt über dem Herzen des Riesen, ein Anhänger von der Größe eines Männerdaumens und von einer Form, die Marrah inzwischen vertraut war: ein vierbeiniger Hirsch, der wiederum doch kein Hirsch war, mit Haaren statt eines Geweihs. Neben ihm lag ein seltsam anmutender Bogen, der in der Mitte gekrümmt war wie zwei Wellen, die aufeinanderstoßen.
    »Große Göttin!« rief Ama. »Er sieht aus, als trüge er alles Gold der W–« Aber sie kam niemals dazu, ihren Satz zu beenden. Denn plötzlich stieß der Fremde einen so schrecklichen, schrillen Laut des Entsetzens und des Kummers aus, daß alle vor Schreck erstarrten.
    »Ai! « schrie er. »Ai, ai!« Und dann warf er sich über den Leichnam, zog den Toten in seine Arme und preßte ihn an seine Brust. »Achan, doboi dan!« jammerte er und bedeckte die Augen und Lippen des Toten mit innigen Küssen.
    »Was sagt er?« verlangte Mutter Asha zu wissen. »Versteht einer von euch, was er sagt? «
    Keiner verstand etwas. Der Fremde hob den Toten hoch und wiegte ihn in seinen Armen, während er ununterbrochen jammerte und schluchzte, als hätte er plötzlich den Verstand verloren. Alle waren verblüfft. Noch niemals zuvor hatten sie solch tiefen Kummer gesehen. Natürlich trauerte man, wenn jemand starb, aber gleichzeitig wußte man, daß der geliebte Tote zur Mutter Erde zurückkehren würde, deshalb weinte man zwar, aber man verzweifelte nicht völlig. Doch der Fremde schien vor Trauer vollkommen außer sich zu sein. Behutsam legte er den Toten auf die Bahre zurück und begann dann plötzlich, an seinen eigenen Haaren zu zerren

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