Alteuropa-Trilogie 1 - Im Jahr der Pferde
gewaltigen Sturm Schiffbruch erlitten und wären durch die wilden Wogen getrennt worden. Er sagt, daß der Tod seines Bruders für ihn ein ... ich verstehe das Wort nicht genau, aber ich glaube, er meint, es sei eine schreckliche Sache für ihn, wie der Verlust eines Armes oder Beines. Ja, genau, das ist es. Achan war wie sein rechter Arm für ihn, und er sagte, ohne seinen Bruder fühlt er sich verkrüppelt.«
Alle starrten sie sprachlos an. »Woher weißt du das alles ?« flüsterte Mutter Asha. »Wie kann ein Mädchen deines Alters wissen, was niemand sonst weiß? Hat dir die Göttin selbst das Zweite Gesicht gegeben ?«
»Nein, liebe Mutter.« Marrah hatte endlich die Geistesgegenwart, sich respektvoll vor ihr zu verbeugen. »Der Fremde spricht eine Sprache, die sehr viel Ähnlichkeit mit der hat, die meine Mutter mich lehrte.«
»Erstaunlich.« Mutter Asha sah immer noch aus, als glaubte sie ihr nicht so ganz. »Willst du mir damit sagen, er spricht Sharan?«
»Nicht direkt, aber eine Sprache, die sehr ähnlich ist. Ich glaube, er spricht möglicherweise Shambah. Die Dorfbewohner, die an dem Süßwassersee nördlich von Shara leben, sprechen Shambah, aber er scheint nicht wirklich von dort zu kommen, weil er einen merkwürdigen Akzent hat. Ich glaube, seine Muttersprache muß die sein, die er vorhin gesprochen hat, doch ich schätze, ich kann mich ihm verständlich machen, wenn die Mutter wünscht, daß ich für sie übersetze.«
»Dies ist ein Wunder!« Mutter Asha hob die Hände und drehte sich zu der neuen Statue der Göttin um. »Lob und Dank sei Ihr, die selbst die Steine zum Reden bringen kann.« Nach dieser poetischen Äußerung wandte sie sich wieder praktischeren Dingen zu. »Frag ihn nach seinem Namen, Kind. Frag ihn, woher er kommt.«
Marrah sprach mit dem Fremden auf Sharan, und wieder umarmte er sie. Als sie ihn sanft von sich schob, entschied sie, von jetzt an außerhalb seiner Reichweite zu bleiben. Er hatte einen Griff an sich, der einem ausgewachsenen Bären die Lungen zerquetschen konnte. »Er sagt, sein Name ist Stavan, und er kommt vom Grasmeer.«
»Ein Meer aus Gras? Bist du sicher, daß du das richtig verstanden hast? Das ergibt doch keinen Sinn.«
»Ja, verehrte Mutter, ich bin mir sicher. Er hat es zweimal so deutlich gesagt, wie ich es dir gerade sage. Und er sagte noch etwas anderes, etwas, was mich auf den Gedanken bringt, ob er vielleicht nicht ganz bei Verstand ist. Er sagte –«, Marrah hielt verlegen inne, es war ihr peinlich, einen solchen Unsinn vor der »Mutter aller Familien« zu äußern, »er sagt, er wäre zusammen mit seinem Bruder Achan vor ungefähr vier Jahren von diesem Grasmeer aufgebrochen, und die ganze Zeit wären sie herumgezogen und hätten nach Gold gesucht.«
»Nach Gold ?« Mutter Asha hob skeptisch die Brauen. »Haben sie so viele Tote, daß sie gleich dutzendweise Begräbnisketten anfertigen müssen ?« Sie drehte sich zu dem Toten um, der im Sonnenlicht glitzerte, obwohl er reglos auf seiner Bahre lag. »Nach dem Aussehen seines Bruders zu urteilen, würde ich denken, die beiden hätten genug Gold für sämtliche Tempel in ihrem Land gefunden. Warum sind sie nicht schon längst wieder zurückgekehrt? Wie kann man nur so töricht sein, Jahre seines Lebens auf diese Weise zu verschwenden? «
Marrah trat nervös von einem Fuß auf den anderen und wünschte, sie hätte sich niemals dazu angeboten, die Dolmetscherin zu spielen. Ihr war nicht nur gerade siedendheiß wieder eingefallen, daß Sabalah ihr verboten hatte, in Gegenwart des Fremden die Sprache von Shara zu benutzen – sondern was sie als nächstes sagen mußte, war auch so unglaublich, daß Mutter Asha sie wahrscheinlich empört wegschicken würde. »Sie haben nicht nur nach Gold gesucht, verehrte Mutter. Der Fremde – das heißt, Stavan – sagt, sie hätten nach einem Dorf gesucht, das aus purem Gold besteht, von dem ihr Volk glaubt, daß es im Tal der untergehenden Sonne liegt.« Sie hielt inne, sträubte sich dagegen, die Wahrheit auszusprechen, obwohl sie dazu verpflichtet war. »Tatsächlich hat er nicht ›Dorf‹ gesagt; er sagte, sie suchten nach ›einem großen Lager aus goldenen Zelten‹. Ich fragte ihn, ob sie das Gold von den Zelten haben wollten, um sich damit zu schmücken, und er sagte ja, so wäre es, weil ihr Volk Gold am höchsten von allen Dingen schätzte, aber es steckte noch mehr dahinter. Er sagte, die Suche sei eine heilige Pflicht, und er und sein Bruder wären
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