Alteuropa-Trilogie 1 - Im Jahr der Pferde
und seine Kleider zu zerreißen. Er hob eine Handvoll Erde auf, streute etwas davon auf seinen Kopf, aß den Rest, und dann, bevor einer der Umstehenden begriff, was geschah, zog er das Messer des Toten aus dessen Scheide und stach wie ein Verrückter auf sein eigenes Fleisch ein.
»Haltet ihn auf! « schrie Mutter Asha und versuchte mühsam, auf die Füße zu kommen.
Die jüngeren Leute, einschließlich Marrah, stürzten sich auf den Fremden und bemühten sich verzweifelt, ihm das Messer wegzunehmen, aber so schwach er auch war, er wehrte sich heftig gegen sie und schüttelte sie ab. Wie ein in die Enge getriebenes Tier hockte er neben dem Leichnam und schrie sie in seiner unverständlichen Sprache an. Blut tropfte von seinen Armen, und seine Augen rollten wild, als wäre er kurz davor, einen Anfall zu bekommen. Marrah wich vor ihm zurück, zutiefst verängstigt. Sie hatte noch niemals einen Menschen gesehen, der so vollkommen die Kontrolle über sich verloren hatte. Plötzlich ging eine Veränderung mit dem Fremden vor. Er blickte in das Gesicht des Toten hinunter und begann am ganzen Körper zu zittern. »Achan! Achan!« schrie er wieder und wieder, während er das Messer aus seiner Hand gleiten ließ, sich über den Leichnam warf und bebend und schluchzend dort liegenblieb.
»Schafft das Messer aus seiner Reichweite«, kommandierte Mutter Asha. Mit wackeligen Knien und zutiefst erschüttert ließ sie sich wieder auf ihre Schaffelle sinken. Ich bin bei weitem zu alt für so etwas, dachte sie, und sie fühlte, wie ihr uraltes Herz in ihrer Brust flatterte.
Marrah sprang vor, hob das Messer auf und reichte es Ama. »Gut gemacht.« Ama selbst war noch zu erschüttert. Das waren sie alle. Eine Menschenmenge begann sich zu bilden, angelockt von dem Geschrei. Bald war die Bahre von einem Kreis ernster brauner Gesichter umringt. Die Menschen sprachen flüsternd miteinander, zermürbt von dem lauten Wehklagen und der Trauer des Fremden. Sicherlich gab es etwas, was als nächstes getan werden müßte, aber keiner wußte, was es war, selbst Mutter Asha nicht.
Hega sprach als erste. »Armer Mann«, sagte sie mitfühlend. »Arme verlorene Seele.«
Beim Geräusch ihrer Stimme, oder vielleicht war es auch ihr sanfter Tonfall, hob der Fremde den Kopf. Sein Gesicht war blaß und tränenüberströmt, und er sah jung aus – so jung, daß Marrah dachte, wenn sie ihn zum ersten Mal sähe, würde sie ihn wahrscheinlich nicht älter als Bere schätzen. Es war ein verletzliches, flehendes Gesicht, und sein Anblick ließ mitleidiges Gemurmel von der Menge aufsteigen.
»Seht, wie er weint.«
»Seht, wie er trauert.«
»Vielleicht hat er Angst, daß wir die Knochen seines Freundes nicht segnen werden.«
»Aber natürlich wird Mutter Asha sie segnen.«
»Aber woher soll er das wissen? Der arme Mann versteht ja kein Wort von dem, was wir sagen.«
Als hätte er ihre Besorgnis gespürt, hob der Fremde plötzlich die Hände, wies mit einer Geste auf den toten Mann und sagte dann etwas. Er wiederholte den Satz mehrmals, als frustrierte ihn ihre Unfähigkeit, seine Worte zu verstehen, aber seine Bitte, was immer sie auch sein mochte, ergab für niemanden einen Sinn. Schließlich ballte er die Hände zu Fäusten und hämmerte gegen seine eigene Brust. »Xuxu hztu!« schrie er. »Xuxu hztu!«
Heilige Göttin! dachte Marrah und starrte ihn verwundert an. Entweder träumte sie, oder sie hatte tatsächlich gerade verstanden, was er gesagt hatte! Hastig lief sie zu dem Fremden, ließ sich neben ihn auf die Knie fallen und brachte ihr Gesicht dicht vor seines. Er roch nach Schweiß und Holzrauch und noch nach etwas anderem, was sie nicht identifizieren konnte. »Xuxu ?« fragte sie.
»Marrah!« rief Ama erschrocken. »Was tust du da? Bleib von dem Mann weg. Er ist gefährlich.«
Aber ausnahmsweise einmal gehorchte Marrah nicht. »Xuxu? « wiederholte sie.
»Xuxu, chau! « Der Fremde streckte die Arme aus und packte sie bei den Schultern. »Xuxu, vh hztu xuxu ch tzxha Achan! «
»Marrah aus Xori, steh sofort auf!« kommandierte Mutter Asha.
Nachdem Marrah sich mit einiger Mühe aus der Umarmung des Fremden befreit hatte, erhob sie sich und drehte sich zu der »Mutter aller Familien« um. »Ich verstehe ihn! « rief sie aufgeregt. »Ich weiß, was er sagt! Der Tote« – sie zeigte auf den Leichnam auf der Bahre –»ist sein Bruder, Achan.« Hinter ihr sprach der Fremde in hastigen, aufgeregten Sätzen. »Er sagt, sie hätten in einem
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