Alteuropa-Trilogie 1 - Im Jahr der Pferde
mit großen Ehren ausgeschickt worden, den Ort zu finden, wo die Sonne schlafen geht.«
»Armer Idiot«, schaubte Mutter Asha verächtlich. »Jeder weiß, daß die Sonne die Tochter der Göttin Erde ist, die sie jeden Abend auf dem Grund des Meeres zu Bett bringt.«
»Der Fremde sagt, die Sonne ist keine Tochter, sondern ein großer Gott namens Han, der den Himmel beherrscht.«
»Ein Himmelsgott.« Mutter Asha schüttelte seufzend den Kopf. Sie zeigte auf die Menge von Leuten, die gebannt auf jedes Wort lauschten. »Geht in eure Lager zurück, ihr alle. Wir haben hier einen Mann unter uns, dessen Welt auf dem Kopf steht, und es wird einige Zeit dauern, um sie wieder geradezurücken.« Sie wandte sich an die Dorfmütter, die neben der Plattform standen. »Geht und sagt euren jungen Leuten, sie sollen uns zu essen und zu trinken bringen. Dieser Stavan klammert sich wie eine Klette an seinen toten Bruder, und da ich keine Möglichkeit sehe, ihn dazu zu überreden, aus der Sonne zu gehen, werde ich hier sitzen bleiben und mit ihm sprechen müssen. Dies ist keine angenehme Aufgabe für eine alte Frau, und ich habe nicht die Absicht, meine Pflicht mit leerem Magen zu erfüllen.«
Mutter Asha hatte recht, wie gewöhnlich. Die Unterhaltung mit dem Fremden dauerte lang, genau wie sie vorhergesagt hatte, und obwohl Marrah ihr Bestes tat, verlief das Gespräch alles andere als gut. Sie übersetzte alles wahrheitsgemäß, und jedesmal, wenn sie den Mund aufmachte, wurde der Fremde wütender. Schließlich brüllte er sie zornig an.
»Nein!« schrie er. »Nein, nein, nein! Warum könnt ihr, du und diese alte Frau, denn nicht verstehen? Ich habe es euch schon einmal gesagt, ich will nicht, daß Achans Körper von Vögeln zerrissen wird. Es ist ein schrecklicher Brauch; er ist abstoßend und widerwärtig. Es ist etwas, was mein Volk nur mit Verrätern tut, die ihre Häuptlinge hintergangen haben.«
»Ich finde es noch viel abstoßender, ihn in der Erde verfaulen zu lassen«, schrie Marrah zurück. Sie hatte sich bemüht, nicht die Beherrschung zu verlieren, aber sie haßte es, angebrüllt zu werden. Wie konnte es dieser große, häßliche Mann wagen, einen der heiligsten Bräuche ihres Volkes »widerwärtig« zu nennen, wenn er sie bat, ein Loch in die Erde zu graben und den Leichnam seines Bruders wie ein Stück verdorbenen Fleisches hineinzuwerfen!
Der Fremde ballte die Hände zu Fäusten und schlug sich gegen die Brust. »Reißt mein Herz heraus, wenn ihr müßt«, schrie er, »aber laßt nicht zu, daß die Raben das Herz meines Bruders fressen, der einer der größten Krieger meines Volkes war. Achan war der Nachfolger meines Vaters, sein einziger legitimer Sohn. Er wäre der Große Häuptling der Zwanzig Stämme geworden, wenn er gelebt hätte, und lieber würde ich selbst sterben als zulassen, daß ihr ihn auf einen eurer verfluchten Türme des Schweigens legt. Ich habe einmal einen Mann gesehen, der auf diese Weise den Vögeln ausgesetzt war, und bei dem Anblick ist mir speiübel geworden.«
Mutter Asha mischte sich ein. »Was tobt er so? Worüber spricht er ?« Sie haßte es, wenn Leute so außer sich gerieten, besonders, wenn sie nicht verstehen konnte, was sie sagten. Marrah wich ein paar Schritte vor dem Fremden zurück, funkelte ihn ärgerlich an und begann zu übersetzen, während ihre Stimme vor Zorn zitterte. Störrischer Idiot, dachte sie, ohne jemals auf die Idee zu kommen, daß er vielleicht das gleiche von ihr dachte.
Als Marrah mit ihrer Übersetzung fertig war, seufzte Mutter Asha und schüttelte den Kopf. »Ich verstehe zwar immer noch nicht, warum er eine so starke Abneigung gegen die heiligen Vögel hat, die die Toten zurück zur Mutter bringen, aber solange er uns nicht feindlich gesonnen ist und keinen Schaden anrichten will, werden wir seinen Wunsch respektieren. Sag ihm, daß wir seinen Bruder in einem tiefen Erdloch beerdigen werden. Dann wird er hoffentlich zufrieden sein.«
Und so kam es, daß die Angehörigen des Küstenvolks am Morgen des zweiten Tages des Fests den unerhörten Anblick eines Toten erlebten, der in die Erde gelegt wurde, während sein Fleisch noch an seinen Knochen haftete. Bis auf seinen Bogen, ein Armband und zwei goldene Ringe, die Stavan aus seinen Ohren entfernte, wurde Achan mit seinem Schwert an seiner Seite und der Halskette um seinen Hals beerdigt, und auch das kam den Zuschauern reichlich sonderbar vor, denn warum diesen wunderschönen zeremoniellen Schmuck
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