Alteuropa-Trilogie 1 - Im Jahr der Pferde
aber er tat sein Bestes. Das Grasmeer wäre eine riesige Fläche, berichtete er, dehnte sich so weit in alle Richtungen, daß es viele Monate dauerte, um es zu durchqueren, selbst zu Pferde. Es wäre eine Welt für sich, im Osten und Süden von Wüsten begrenzt und im Norden von endlosen Wäldern. Die einzige Öffnung sei im Westen, und obwohl es dort mehrere Gebirgszüge und viele Flüsse gäbe, könnte sich ein Mann zu Pferd mühelos einen Weg in das Tal des Rauchflusses bahnen, wenn es dort lag, wo Sabalah behauptete. Wie lange diese Reise dauerte, würde davon abhängen, von wo aus der Mann aufbräche.
Die Stämme nannten keinen Ort ihr Zuhause, sie waren Nomaden, die ständig weiterzogen und niemals länger als ein paar Wochen an einem Ort blieben. In uralten Zeiten wären sie einem heiligen weißen Hengst gefolgt, erklärte Stavan, hätten ihn freigelassen, damit er den Pfad ihrer Wanderung bestimmte, aber seit der Zeit seines Urgroßvaters gäbe es zu viele Stämme, die nach frischen Weidegründen suchten, und Kämpfe um Weide- und Wasserrechte seien üblich.
Und die Frage nach der Zahl der Krieger war sogar noch schwieriger zu beantworten. Wenn sich alle Stämme der Hansi zu einem Treffen versammelten, schien es fast so viele Lagerfeuer wie Sterne am Himmel zu geben. Und die Hansi waren nur
ein
Stamm. Es gab noch viele andere: die Tcvali, die Zikuluzu, die Abakaz und so weiter. Wie viele Krieger es im Grasmeer gäbe? Das wüßte nur Han. Sie solle an den Strand gehen und die Sandkörner zählen, schlug Stavan vor. Oder zum Meer hinuntergehen und das Wasser Tropfen für Tropfen zählen, dann würde sie einen Eindruck von ihrer Zahl bekommen.
Als er mit seiner Schilderung geendet hatte, saß Sabalah so lange schweigend da, daß er schon zu fürchten begann, er hätte sie beleidigt; aber sie war nicht beleidigt, sondern zu Tode erschrocken. Dies war noch weitaus schlimmer, als sie befürchtet hatte.
Wenn Stavan die Wahrheit sagte – und sie hatte keinen Grund zu der Annahme, daß er log –, kamen die Tiermenschen nicht, um Marrah zu rauben; sie kamen noch nicht einmal, um Shara zu erobern. Nein. Sie ritten gen Westen, um sämtliche Völker auszulöschen, die die Göttin Erde anbeteten.
An diesem Abend ließ sich Sabalah von Seme und Belaun in den Tempel tragen. Dort, allein in der heiligen Finsternis, ohne eine Kerze oder Feuer, öffnete sie einen kleinen Beutel aus Rehfell und schüttete ein Stückchen getrockneten Pilz in ihre Handfläche. Obwohl sie nicht sehen konnte, was sie hielt, wußte sie, der Pilz war schwarz und wie ein Dorn geformt. Das Küstenvolk nannte ihn »Brot der Dunkelheit«, und seine Wirkung war so stark, daß jene, die ihn ohne die richtige Anleitung einnahmen, manchmal auf Dauer wahnsinnig wurden.
»Liebste Batal«, betete sie. »Ich bin so weit von deiner Traumhöhle entfernt und so weit von Shara, daß du mich vielleicht nicht hören kannst, aber wenn du es kannst, dann bitte ich dich, mir noch eine Vision zu schicken. Zeig mir, was ich tun kann, um mein Volk vor den Tiermenschen zu retten, denn ich kann erkennen, daß unsere Welt im Begriff ist, zerstört zu werden, und dies ist zuviel des Wissens, als daß ich allein damit fertig würde.«
Als ihr Gebet beendet war, drehte sie sich um und küßte die Erde, dann, bevor sie der Mut verließ, schob sie sich rasch das Brot der Dunkelheit in den Mund, schluckte es und legte sich zurück, zitternd vor Furcht und doch fest entschlossen, zu sehen, was auch immer von der Zukunft zu sehen möglich war.
Lange Zeit geschah nichts, aber schließlich, als Sabalah schon fast aufgeben wollte, erhörte Batal ihr Gebet. Die Vision, um die Sabalah die Göttin gebeten hatte, kam ohne Vorwarnung über sie, und diesmal war sie so schrecklich, daß man sie nicht mit Worten beschreiben konnte – die Zeit stand still, die Welt hörte auf zu existieren, und ihr Herz setzte sekundenlang zwischen zwei Schlägen aus. Sabalah wußte, sie war gleichzeitig tot und lebendig, sie war da und doch wiederum nicht, und in ihrer Qual schrie sie nach Licht, und es kam Licht, wirbelte aus der Finsternis heraus. Ein einziger Rausch von Farbe und dennoch farblos, verbrannte es sie, züngelte über ihre Lippen und Lider und versengte ihr Fleisch, bis sie wild aufschrie. Als sie schließlich völlig von den Flammen verzehrt war und nichts mehr von ihr übrig war bis auf die Dunkelheit und Asche, sprach eine Stimme zu ihr.
»Wer wünscht meine Geheimnisse zu
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