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Alteuropa-Trilogie 1 - Im Jahr der Pferde

Titel: Alteuropa-Trilogie 1 - Im Jahr der Pferde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mary Mackey
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Tage später, nachdem sie sich Amas Erlaubnis versichert hatten, brachen Marrah, Arang und Stavan mit zwei Händlern aus Zizare auf, die mit Körben voller Jaditäxten in südlicher Richtung nach Gurasoak segelten. Das letzte, was Marrah sah, als das Boot die Kapspitze umrundete, war Sabalah, die am Strand stand, gestützt von Bere und Onkel Seme.
    »Möge die Große Göttin euch segnen, meine Kinder«, rief Sabalah wieder und wieder, bis Marrah sie nicht mehr hören konnte, aber sie brach nicht wieder weinend zusammen, und sie rief ihre Kinder auch nicht zurück.
    Als das Boot endgültig außer Sichtweite war, wandte sich Sabalah an Bere und Seme. Semes Gesicht war tränenüberströmt, und Bere, der die letzte Nacht mit Marrah verbracht hatte, schluchzte laut, aber Sabalah konnte kein Mitgefühl für sie aufbringen. Ihre eigenen Tränen waren vor Tagen versiegt, und alles, was übrig blieb, war ein tiefer, unauslöschlicher Kummer, der ihr Herz mit eisiger Hand umklammert hielt. »Tragt mich zurück zu Amas Langhaus und legt mich neben meinem Feuer nieder«, kommandierte sie.
    Seme hob Sabalah auf seine Arme, trug sie zum Langhaus und legte sie behutsam auf einen Stapel Schaffelle vor ihrem Herdfeuer. Ama wartete schon auf sie, eine große Holzzange in der Hand.
    Sabalah blickte erst auf das Feuer und dann auf Ama. »Sind die Steine schon heiß genug? « fragte sie. Ama nickte grimmig. »Gut«, erwiderte Sabalah entschlossen. »Dann nimm einen aus dem Feuer und drück ihn gegen meinen Fuß und brenn das verfaulte Fleisch heraus. Ich möchte lange genug leben, um meine Kinder wiederzusehen.«
    Und damit schob sie sich das Ende ihres Ledergürtels zwischen die Zähne, legte sich zurück, schloß die Augen und ließ sich von Bere und Seme mit aller Kraft festhalten, als Ama ins Feuer griff, den rotglühenden Stein herausholte und ihn gegen die kreisförmige Stelle schwarzen Fleisches auf ihrer Fußsohle preßte, während sie flehend rief: »Verzeih mir, Sabalah!«
    Mit zitternden Händen nahm Sabalah den Gürtel aus dem Mund; in ihren Augen schimmerten Tränen, und die anderen sahen, daß sie das Leder durchgebissen hatte. »Es gibt nichts zu verzeihen«, murmelte sie, von Schmerz gequält. »Tu es noch einmal, wenn du mußt, brenn die ganze Stelle aus.« Und dann schob sie sich den Gürtel erneut zwischen die Zähne, packte Beres und Semes Arm, schloß die Augen und dachte an Marrah und Arang, wie sie ihr zugewinkt hatten und immer kleiner und kleiner geworden waren, als sie davonsegelten.

 ZWEITER TEIL
Sabalahs Lied
     

»Zwischen dem Blauen Meer
    und dem Meer der Grauen Wogen
    liegen die Höhlen von Nar,
    wo die Tiere tanzen.
     
    Sie tanzten schon für unsere Vorfahren,
    als die Welt aus Eis bestand.
    Sie werden auch für unsere Kinder tanzen,
    wenn unsere Gebeine bereits Staub sind.
     
    Geh leise, geh leichten Schrittes,
    denn die Erde schläft.
    Geh leise, geh leichten Schrittes,
    störe ihre Träume nicht.«
     
    Sabalahs Lied, Strophe 11-13
    Von Gurasoak zu den Höhlen von Nar
     

6. KAPITEL
    Mutter Asha saß in einer Sänfte aus Holz und Korbgeflecht. Die Sänfte, die nach ihrem eigenen Entwurf angefertigt worden war, hatte eine hohe, geflochtene Rückenlehne, Armstützen, behagliche, mit Daunen gefüllte Kissen und sogar eine kleine hölzerne Fußstütze, auf die sie ihre Füße stellen konnte, wenn ihre Knöchel zu schmerzen begannen. Groß genug, um bequem zu sein, und doch wiederum klein genug, um durch die Türen der Langhäuser in Gurasoak zu passen, war es die einzige Sänfte ihrer Art im ganzen Land des Küstenvolks, und im stillen bildete sich Mutter Asha eine Menge auf ihren Entwurf ein. Aber an diesem Morgen war sie sich kaum der Kissen bewußt, und statt sich gegen die Rückenstütze zu lehnen, beugte sie sich gespannt vor, als sie Marrahs Erklärung zuhörte, warum sie, ihr Bruder und der Fremde namens Stavan nach Osten reisten.
    »Dann folgst du also dem Lied deiner Mutter. Wie ich dich beneide! « Mutter Asha klopfte ungeduldig auf die Armlehne ihrer Sänfte und dachte, wie schön es wäre, eine solch riesige Entfernung zu Fuß zurücklegen zu können, ohne sich Sorgen darüber machen zu müssen, daß einem die Knie versagten. »Seit fast fünfzehn Jahren, seit dem Tag, als ich die ›Mutter aller Familien‹ wurde, sitze ich hier und höre den Händlern vom Blauen Meer zu, wenn sie mir von den Ländern jenseits des Waldes erzählen. Ich war hier, als deine Mutter damals mit dir auf dem

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