Alteuropa-Trilogie 1 - Im Jahr der Pferde
ihren Medizinbeutel, zog ein Stückchen Brot der Dunkelheit heraus und brach es in zwei Hälften. »Nimm das hier und iß es. Was immer du siehst, wird heiliges Wissen sein, das nur mit einer anderen Priesterin geteilt werden darf. Dies ist das Versprechen, das wir geben, wenn wir Ihr Brot zwischen unsere Lippen schieben.« Sie reichte Marrah das Brot, und Marrah legte das Stückchen auf ihre Zunge. Es schmeckte leicht süß. Konzentriert blickte sie in die Flamme und schluckte.
Die Zeit verstrich. Und dann blieb sie plötzlich stehen. Die Lampe verlöschte. Dunkelheit hüllte sie ein. Und dann hörte Marrah auf, Marrah zu sein.
Als sie wieder erwachte, flog sie hoch über dem Land des Küstenvolks. Sabalah flog neben ihr, und sie waren beide Vögel. Marrah sah, daß ihre Mutter mächtige schwarze Schwingen hatte; ihre eigenen Flügel waren die einer Seemöwe. Mit einem jauchzenden Schrei schoß sie aufwärts und ließ sich von den Strömungen des Windes treiben. Unter sich konnte sie Hoza sehen und südlich von Hoza das Dorf Gurasoak, wo Mutter Asha wohnte. Jenseits von Gurasoak lag ein riesiger Wald und dahinter ein Meer, so blau, daß es aussah, als spiegelte es den Himmel wider. Boote mit tiefem Kiel und weißen Leinensegeln glitten über die Wellen, beladen mit Kupfer und Obsidian, Töpferwaren, Olivenöl, Salz, Wein und seltenen Gewürzen. An den Ufern des Meeres lagen große Städte mit Tempeln und öffentlichen Plätzen, und sie konnte Menschen sehen, die ihren täglichen Verrichtungen nachgingen: Sie töpferten, bearbeiteten Gold, schürften in Minen, webten, beteten in Tempeln, pflanzten Samen in die Erde, pflegten die Kranken, liebten sich, brachten Kinder zur Welt und umsorgten ihre Familien.
Sie flog noch höher. Jenseits der Städte gab es weitere Städte und Dörfer, die sich nach Osten und Westen erstreckten, so weit das Auge sehen konnte, und es gab Flüsse und Wälder und viele Völker, alle so verschieden, und dennoch verehrten sie alle die Göttin Erde. Einige stellten Göttinnensteine auf, andere schnitzten ihr Bildnis in Marmor oder Jade, wieder andere nahmen Ton und formten ihn zu ihrem Ebenbild. Einigen erschien sie als eine heilige Schlange, deren Windungen die endlose Energie des Lebens selbst verkörperten; für andere war sie der Heilige Vogel, der Leben und Tod brachte, oder der Hund, der junges Leben beschützte, oder der Frosch, dessen Körper die Form eines Mutterschoßes symbolisierte. Im Norden wurde sie oft als trächtige Bärin oder Taube angebetet, während sie im Süden häufig in Gestalt eines Bullen erschien, der die Hörner des Halbmondes trug; aber ganz gleich, in welcher Gestalt sie sich ihrem Volk zeigte, ihre Gebote waren immer dieselben, und in jeder Stadt, in jedem Dorf und Wald sangen ihre Kinder von ihrer Liebe für sie und von ihrer Liebe zur Göttin.
Während Marrah über all dem dahinschwebte, sprach eine Stimme zu ihr. »Steig höher«, befahl sie, und so flog Marrah höher, und als sie aufstieg, wurde die Luft kalt, und sie sah, daß es jenseits der Länder der Göttin ein weiteres Land gab, vollkommen mit Gras bewachsen, wo Männer in Lederzelten zu einem Gott des Krieges beteten und einander in seinem Namen töteten. Ihr Gott war ein Gott der Verbannung, der hoch oben am Himmel thronte, und die Erde war etwas Totes für sie.
Und als Marrah hinunterschaute, bestiegen die Männer ihre Pferde und ritten gen Westen, steckten die Häuser und Hütten in Brand, töteten die Tiere, zerstörten die Felder und Wälder, verwüsteten die Städte, und die Menschen flohen in panischer Angst vor ihnen, und ein großes Wehklagen erhob sich im Osten, wie eine dunkle, drohende Wolke, die unaufhaltsam näherkam.
»Sieh hin«, befahl die Stimme, »die Zeit der Vernichtung kommt, und du, Marrah, bist meine Sendbotin. Geh nach Shara und warne meine Kinder, daß die Reiter unterwegs sind. Nimm deinen Bruder mit, und nimm auch den Fremden mit, um zu beweisen, daß du die Wahrheit sprichst.«
»Ja«, rief Marrah, »ja, ich werde gehen!«, und noch im Sprechen ließen ihre Kräfte plötzlich nach, ihre Schwingen erschlafften, und sie begann zu fallen, tiefer und immer tiefer, bis alles um sie herum Dunkelheit war.
Marrah erwachte weinend in den Armen ihrer Mutter.
»Die Göttin hat dir eine Vision geschickt?« flüsterte Sabalah. Marrah nickte stumm.
»Du mußt nach Shara gehen? Und Arang auch?«
Wieder nickte Marrah nur.
»Das bricht mir das Herz!« jammerte Sabalah, und als
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