Alteuropa-Trilogie 1 - Im Jahr der Pferde
etwas anderes, was ihn bedrückte, etwas, was er nicht genau benennen konnte. Es hatte etwas mit Marrah zu tun, doch er hätte nicht exakt sagen können, was das war. Normalerweise, wenn er an eine Frau dachte, wußte er eindeutig, was er fühlte: Entweder verspürte er den Wunsch, sie in sein Bett zu nehmen, oder sie ließ ihn kalt. Natürlich gab es Ausnahmen, Frauen wie Tzinta zum Beispiel, die ihn aufgezogen hatte und praktisch wie eine Mutter für ihn war, die mehr Mut hatte und mehr interessante Geschichten zu erzählen wußte als die meisten Männer; oder Zulike, die Ehefrau seines Vaters, die genug Macht besaß, um einen Mann in ernsthafte Schwierigkeiten zu bringen, wenn ihr der Sinn danach stand. Aber ansonsten wußte er, was er mit einer Frau zu tun hatte, wenn er mit ihr zusammen war – oder was er besser bleiben lassen sollte, wenn sie einem anderen Mann gehörte.
Doch seine Beziehung zu Marrah war irgendwie so verworren und schwierig geworden, daß er vom einen Morgen bis zum nächsten kaum jemals wußte, wie er sie behandeln sollte. Im Grasmeer hätte es dieses Problem nicht gegeben. Er hätte sie ihrem Vater oder Bruder für ein paar Stück Vieh abkaufen können, wenn er sie begehrt hätte, und danach hätte man von ihr erwartet, daß sie ihm diente, seine Kinder gebar und unterwürfig schwieg, wenn er sprach. Sie wäre ein Besitz gewesen – ein geschätzter, das vielleicht, aber immer ein Wesen, das auf einer tieferen Stufe stand und ihm untergeordnet war, so wie selbst die edelste Stute dem Mann unterworfen war, der sie ritt. Und wenn er sie nicht gerade begehrt hätte, würde sie es niemals gewagt haben, mit ihm zu sprechen. Wenn er an ihr vorbeiginge, hätte sie den Blick gesenkt, sich ihr Tuch übers Gesicht gezogen und sich vor ihm verbeugt, auch wenn er nur ein Sohn des Großen Häuptlings war, den dieser mit einer Konkubine gezeugt hatte, und er wäre sich ihrer Anwesenheit kaum bewußt gewesen, außer wenn er sie gerufen hätte, um ihm Wasser zu bringen oder Holz ins Feuer nachzulegen.
Aber Marrah würde ebensowenig demutsvoll den Blick vor ihm senken und ihm einen Becher Wasser bringen wie eine Wölfin. Sie war nicht nur keines Mannes Ehefrau, sie hatte auch noch nicht einmal einen Vater, zumindest keinen, den sie kannte, und soweit Stavan es beurteilen konnte, bestand ihre Vorstellung von der korrekten Behandlung eines Mannes darin, ihn einzuladen, mit ihr zu schlafen. Er hatte sie in Hoza nach dem Tanz um den Baum des Friedens beobachtet, wie sie schamlos einen jungen Mann aus einem anderen Dorf umarmte, und später, als sie nach Xori zurückgekehrt waren, war er sich nach und nach bewußt geworden, daß sie mit Bere in die Wälder ging – nicht, daß es ihn kümmerte, nicht, daß er eifersüchtig gewesen wäre –, und soweit er wußte, galt es in ihrem Volk als völlig normal für eine junge Frau, so viele Liebhaber zu haben, wie sie wollte. Bei Han, sie hielten es nicht nur für völlig normal, sondern betrachteten es sogar als ihre religiöse
Pflicht!
Sicher, er mußte zugeben, daß ihm die Idee von Liebe als religiöser Pflicht durchaus gefiel, aber inwiefern beeinflußte das seine Beziehung zu Marrah? Wie sollte er sich ihr gegenüber verhalten? Er sollte sich besser darüber klar werden, und zwar bald, weil er den gesamten Rest des Jahres mit ihr zusammen unterwegs sein würde, und vielleicht sogar noch länger, falls sie und ihr Bruder ihn brauchten, denn als er geschworen hatte, sie und ihre Familie zu beschützen, hatte er sein Versprechen in keiner Weise zeitlich begrenzt.
Stavan schüttelte den Kopf und warf einen schnellen Blick über seine Schulter auf Marrah und die beiden Händlerinnen. Nur ihre Füße waren sichtbar, weil sie das Boot umgedreht hatten und jetzt wie unter einem gigantischen Sonnenschirm darunter marschierten, lachend und sich unterhaltend, während sie sich einen Weg am Flußufer entlangbahnten.
Die Situation wäre wesentlich weniger verwirrend gewesen, wenn Marrah ihm nicht das Leben gerettet hätte, aber sie hatte es nun einmal getan, und damit war sie seinem Häuptling rangmäßig ebenbürtig geworden. Er hatte ihr auf die gleiche Art Treue geschworen, wie er sie einem anderen Krieger geschworen hätte, aber wie behandelte man seinen Häuptling, wenn es sich dabei um eine hübsche, dickköpfige, selbstbewußte junge Frau handelte, die tat, was immer ihr gefiel?
Nicht, daß Stavan Bedauern über seinen Treueschwur empfand. Unter den gegebenen
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