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Alteuropa-Trilogie 1 - Im Jahr der Pferde

Titel: Alteuropa-Trilogie 1 - Im Jahr der Pferde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mary Mackey
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leise obendrein, weil ich Angst gehabt hätte, erwischt zu werden.
    Sie öffnete die Augen und blickte sich auf der Lichtung um. Die einzige Möglichkeit, schnell und leise aus dem Lager zu verschwinden, war, um den großen Busch auf der anderen Seite des Feuers zu gehen und dann in den Wald zu laufen, bevor jemand merkte, daß man verschwunden war. Der Busch würde einen nicht nur vor spähenden Augen schützen, er stand auch vor einer schmalen Kaninchenfährte, einer von den Dutzenden, die zum Wasser hinunterführten. Arang mußte diesen Weg genommen haben!
    Aufgeregt lief Marrah zu dem Busch und blickte dahinter und wurde vom Anblick kleiner schlammiger Fußabdrücke belohnt. »Stavan! Zastra! Rhom! Shema! Kommt her!« rief sie. »Ich habe Arangs Fußspuren gefunden!« Aber niemand antwortete.
    Sie zog ihr Messer aus dem Gürtel, schnitt einen neuen Ast ab, um ihn als Fackel zu benutzen, zündete ihn an und eilte den Pfad hinunter, wobei sie nach weiteren Spuren Ausschau hielt, und wenig später fand sie sie, und zwar nicht nur eine, sondern gleich Dutzende. Es waren drei verschiedene Sarten: Arangs kleine bloße Füße, ein größerer Abdruck von einer Sandale und ein Stiefel. Zastra und Stavan waren ihm also schon gefolgt! Mit einem Freudenjauchzer lief Marrah weiter, in der Erwartung, Arang jeden Moment zu sehen, wie er mit verlegener, schuldbewußter Miene auf Stavans Schultern saß.
    Ein Stück weiter voraus schimmerte der Schein einer Fackel durch die Bäume. Sie rannte darauf zu und rief immer wieder Arangs Namen. Bald stand sie Stavan und Zastra von Angesicht zu Angesicht gegenüber, doch als sie sich suchend nach Arang umschaute, war er nirgendwo in Sicht.
    »Also, wo ist er?« verlangte sie zu wissen. »Habt ihr ihn noch nicht gefunden?«
    »Wir haben ihn gefunden«, erwiderte Zastra, und in der Sekunde, als sie sprach, erkannte Marrah am Klang ihrer Stimme, daß etwas sehr Sonderbares und Schreckliches passiert war. Angstvoll blickte sie von einem zum anderen. Ihre Gesichter waren blaß und grimmig.
    »Was ist passiert?« rief sie.
    »Marrah, komm mit uns zum Lager, dann erzähle ich dir –« »Wo ist mein Bruder, Zastra? Wo im Namen von hundert Flüchen ist mein Bruder ?«
    Statt zu antworten, schlug Zastra die Hände vors Gesicht und brach in Tränen aus. Marrah blickte Stavan an. Er hielt etwas in der Hand und reichte es ihr stumm. Zuerst begriff sie nicht, was es war, und dann erkannte sie, daß es Arangs Tunika war, zerrissen und mit Blut beschmiert.
    »Nein! « schrie sie entsetzt.
    »Es war ein Löwe«, schluchzte Zastra. »Stavan hat die Spuren gesehen. Wir sind gerannt, Marrah, wir sind gerannt, so schnell wir konnten, glaub mir. Aber wir kamen zu spät. Es war nichts mehr übrig bis auf seine Tunika. Ach, der arme kleine Junge. Ich werde mir niemals verzeihen ...«
    Aber Marrah hörte sie nicht. Sie hatte Stavan die zerfetzte Tunika aus der Hand gerissen und preßte sie an ihre Brust, während sie ununterbrochen schrie, daß Arang noch am Leben sei und sie ihn finden mußten, bevor es noch dunkler wurde.
    Irgendwie gelang es ihnen, Marrah soweit zu beruhigen, daß sie sie zum Lager zurückführen konnten. Irgendwie schaffte sie es, die Suppe hinunterzuwürgen, die sie ihr einflößten, und das Wasser zu trinken, das sie ihr anboten.
    Aber sie wollte die Tunika nicht hergeben. Jedesmal, wenn Zastra sie ihr abzunehmen versuchte, schrie Marrah sie an und umklammerte sie noch fester.
    »Finde ihn!« brüllte sie Stavan an. »Dies ist alles deine Schuld. Wenn du ihm nicht den Bogen gemacht hättest, wäre er nicht in die Wälder jagen gegangen. Er ist nicht tot! Er ist nicht von einem Löwen gefressen worden! Finde meinen Bruder! «
    Stavan sagte kein Wort. Er blickte sie nur mit einem sonderbaren Ausdruck an, einem kalten, merkwürdigen Ausdruck, den sie haßte, und dann verbeugte er sich schweigend vor ihr, machte auf dem Absatz kehrt und verschwand in den Wald.
    Danach gab es nur noch Schmerz und Furcht und eine Nacht, so lang, daß Marrah glaubte, sie würde niemals enden. Sie hockte am Feuer, schweigend und innerlich wie erstarrt, Arangs Tunika in ihrem Schoß, doch sie vergoß keine einzige Träne. Manchmal hob sie die Tunika an ihre Lippen und küßte sie, und manchmal strich sie nur liebkosend mit der Hand darüber, glättete die zerfetzten Teile und fügte sie wieder zusammen. Als sie den Stoff berührte, dachte sie an ihre gemeinsame Kindheit, wie sie und Arang um die Wette gelaufen

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