Alteuropa-Trilogie 1 - Im Jahr der Pferde
verstecken. Babys weinten, und die vier Männer, die die Löwin trugen, ließen sie kurzerhand zu Boden plumpsen und rannten in Richtung Wald.
»Steck deine Waffen ein!« rief Marrah. »Sie sind freundlich. Sie haben Arang das Leben gerettet.« Sie drehte sich zu dem Waldvolk um. »Wartet, lauft nicht weg. Er tut euch nichts. Er ist harmlos!«
»Freundlich?« fragte Stavan skeptisch.
»Ich meine es ernst, Stavan. Wirf sofort deinen Speer hin! Du hast den Leuten einen tödlichen Schreck eingejagt.«
Stavan warf seinen Speer auf den Boden, schob sein Messer wieder in den Gürtel und lief zu Arang, wobei die Leute des Waldvolks wie verängstigte Mäuse in alle Richtungen auseinander-huschten. Doch Stavan kümmerte sich nicht darum, sondern fiel vor Arang auf die Knie, zog ihn in seine Arme und drückte ihn fest
an sich. »Du bist wieder zurück, du bist in Sicherheit, du lebst! « rief er überschwenglich. »Gelobt sei Han! Ich war überzeugt, du wärst tot. Ich dachte, der Löwe hätte dich gefressen! « Er streichelte Arang übers Haar, und seine Augen schwammen in Tränen.
Gerührt von dem Anblick, trat Marrah näher und legte eine Hand auf Stavans Schulter. Zu ihrer Überraschung schien er diese Geste als Tadel aufzufassen. Er zuckte zusammen, als hätte sie ihn geschlagen, erhob sich hastig auf die Füße und wich zurück, während er sie mit dem gleichen kalten, undefinierbaren Ausdruck anstarrte, wie er es am Abend zuvor getan hatte, als sie ihn angeschrien hatte, daß Arangs Tod nur seine Schuld sei.
»Es tut mir leid, daß ich deinen Bruder umarmt habe«, sagte er steif. »Unter diesen Umständen ist es dir sicherlich lieber, wenn ich ihn nicht berührte. Wenn du willst, daß ich gehe, dann werde ich augenblicklich gehen, und du wirst mich niemals wiedersehen müssen.«
Marrah war zu verdutzt, um zu sprechen. Sie blickte erst Stavan an und dann die Waldleute, die vorsichtig wieder aus dem Wald herauskamen, um ihre Löwin abzuholen.
Stavan nahm ihr Schweigen offensichtlich als Zustimmung, denn er fuhr in derselben Art fort: »Ich würde dich ja um Verzeihung bitten, aber was ich getan habe, ist unverzeihlich. In meinem eigenen Land würde ich jetzt Han geopfert werden, damit mein Blut den Namen meines Vaters von der Schande reinwaschen würde, aber ich glaube, hier seid ihr barmherziger. Ich glaube, eure Göttin verlangt kein Blutopfer.«
Was immer in seinem Kopf vorging, war so fremd und unverständlich, daß er ebensogut Hansi hätte sprechen können. »Im Namen von sieben Flüchen, wovon sprichst du eigentlich? « rief Marrah verwirrt. »Erst jagst du alle mit deinem Speer in die Flucht, und jetzt redest du Unsinn.«
Nun war Stavan derjenige, der verwirrt dreinblickte. »Sicher verstehst du, daß ich geschworen habe, dich und deinen Bruder mit meinem eigenen Leben zu schützen. Nun, ich war nicht da, als Arang mich brauchte. Statt dessen«, er wies mit einer Kopfbewegung auf das Waldvolk, »haben sie ihn gerettet, und ich bin«, erhielt inne, als blieben ihm die Worte in der Kehle stecken, »entehrt.«
Endlich verstand Marrah. »Du glaubst, ich wäre immer noch wütend auf dich?« Er nickte. »Du glaubst, ich gäbe immer noch
dir
die Schuld an der Tatsache, daß Arang in den Wald verschwand und durch seine eigene Unachtsamkeit beinahe von einer Löwin getötet worden wäre ?« Wieder nickte Stavan. »Und du glaubst, ich mag dich nicht mehr und vertraue dir nicht, weil du dein Versprechen nicht halten konntest? « Einen Moment lang stand er wie eine Statue da, dann nickte er zum dritten Mal. Marrah sah die Scham in seinen Augen.
Armer Stavan, dachte sie. Da sie sich in einer gemeinsamen Sprache unterhielten, vergaß sie häufig, wie anders er war und wie anders er über viele Dinge dachte.
»Stavan«, sagte sie sanft, »ich bin nicht wütend auf dich. Es war falsch von mir, als ich gestern sagte, es wäre alles deine Schuld, aber ich war halb verrückt vor Schmerz und Kummer. Ich muß mich bei dir entschuldigen. Und ich vertraue dir immer noch.«
»Wirklich? «
»Aber natürlich. Wie konntest du auch nur einen Moment lang denken, daß ich wirklich glaubte, es wäre deine Schuld? Wenn ich deinen Rat angenommen und besser auf Arang aufgepaßt hätte, hätte er gar nicht erst weglaufen können. Tatsächlich habe ich sogar beschlossen, dich zu bitten, sein
aita
zu sein. Ich fürchte, ohne deine Unterstützung werde ich nicht mit ihm fertig.« Sie legte einen Arm um Arangs Schultern. »Natürlich
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