Alteuropa-Trilogie 1 - Im Jahr der Pferde
waren und gespielt und Beeren gepflückt hatten und im Meer geschwommen waren.
Als sie aufblickte, sah sie Shema, Zastra und Rhom, die sie mit mitfühlenden Blicken bedachten.
»Sie muß weinen«, sagte Zastra leise, »sonst wird ihr das Herz brechen.«
»Laß deinen Tränen freien Lauf«, drängte Shema und zog Marrah in einer mütterlichen Umarmung an sich. »Weine, mein Liebes.« Bei Shemas tröstender Berührung erwachte Marrahs Herz endlich aus seiner Erstarrung. Sie ließ die Tunika zu Boden gleiten, lehnte ihren Kopf an Shemas Schulter und schluchzte haltlos. Und als sie sie weinen sahen, begannen auch die Händler zu weinen und trauerten um den kleinen Jungen.
Marrah wußte nicht, wie sie jene Nacht überstand. Sie mußte wohl eingeschlafen sein, weil sie irgendwann kurz nach Einbruch der Morgendämmerung ruckartig aufwachte. Einen Moment lang war es wie an jedem anderen Morgen: Der Himmel zeigte eine mattrosa Färbung, Vögel zwitscherten, und ganz in der Nähe war das stetige Rauschen des Flusses zu hören. Und dann fiel ihr wieder ein, daß Arang von einem Löwen getötet worden war.
»Marrah«, sagte eine sanfte Stimme. Sie drehte den Kopf, um Zastra mit einem Becher heißer Fleischbrühe neben sich stehen zu sehen. Es war ein besonderer Genuß, doch sie hatte keinen Appetit.
»Ich will zurück nach Xori«, erklärte sie Zastra und schob den Becher weg, und als Zastra sie zu trösten versuchte, wehrte sie auch diese Bemühungen ab, denn es gab keinerlei Trost mehr für sie. Schweigend erhob sie sich und ging den Pfad zum Fluß hinunter, um sich kaltes Wasser ins Gesicht zu spritzen, doch ihre Füße fühlten sich so schwer wie Steine an, und sie schien endlos lange für den Weg zu brauchen. Stavan war nirgendwo zu sehen, aber Rhom war bereits wach, saß auf einem Felsblock, damit beschäftigt, den Trageriemen zu flicken, den er am letzten Abend halbfertig hatte liegen lassen, und Shema verzehrte ihr Frühstück. Sie blickte zur Seite und sagte nichts, respektierte Marrahs Trauer.
Marrah watete in den Fluß hinein und ließ das kalte Wasser um ihre Beine schwappen. Die Enten schwammen im Schilf, und die Strömung kräuselte sich um dieselben Baumstümpfe, und doch war nichts mehr so wie zuvor. Alles, was sie ansah oder berührte, alles, woran sie dachte, erinnerte sie an Arang.
Sie bückte sich und spritzte sich etwas Wasser ins Gesicht, und als sie sich wieder aufrichtete, hörte sie einen sonderbaren Klang. Er war hoch und gleichzeitig tief, wie eine große Schar Vögel, die alle zugleich trillerten und zwitscherten, und er schien aus dem Wald zu kommen. Sie blickte zum Lager zurück und sah, daß Rhom und seine Schwestern aufgesprungen waren und zu den Bäumen hinüberstarrten.
»Was ist das ?« rief Shema ängstlich.
»Ich weiß es nicht«, erwiderte Rhom.
Das Geräusch wurde allmählich lauter und deutlicher; es war ein Lied, gesungen von Menschen, die mit jedem Augenblick näherkamen. Jetzt konnte Marrah noch andere Töne ausmachen: eine Trommel, eine Art von Klacken, als würden Holzstäbe aufeinanderschlagen, das Stampfen unzähliger Füße. Und plötzlich bot sich ein erstaunlicher Anblick am Waldrand. Zuerst tauchten vier Männer auf, die einen toten Löwen an einer langen Holzstange trugen. Sie waren klein und hellhäutig, mit breitem Brustkorb und dunklen Augen und Haaren, die offen bis zu ihren Schultern herabhingen, und auf den ersten Blick glaubte Marrah, sie wären nackt, doch dann sah sie, daß sie eine Art Lendenschurz aus Lederriemen trugen. Hinter den Männern folgte eine lange Reihe von tanzenden Männern, Frauen und Kindern, die mit den Füßen auf den Erdboden stampften und sich im Kreis drehten und die Arme schwangen, während sie aus voller Kehle sangen. Viele der Frauen trugen Kinder auf dem Rücken, aber alle – Männer und Frauen – waren mit Speeren bewaffnet, die sie beim Singen rhythmisch aneinander-schlugen.
»Es sind Leute vom Waldvolk!« rief Zastra.
Und dann stieß Marrah ebenfalls einen Schrei aus und hastete das Flußufer hinauf, so schnell ihre Füße sie trugen, denn dort am Ende der langen Reihe von Tanzenden, so als wäre er niemals verschwunden gewesen, kam Arang aus dem Wald heraus, heil und unversehrt.
»Arang! « rief sie jauchzend und rannte auf ihn zu. Sie trafen sich in einer Umarmung, die sie beide beinahe von den Füßen gerissen hätte, und dann hob Marrah ihren kleinen Bruder hoch und schwenkte ihn im Kreis herum, und sie lachte und weinte
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