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Alteuropa-Trilogie 1 - Im Jahr der Pferde

Titel: Alteuropa-Trilogie 1 - Im Jahr der Pferde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mary Mackey
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Wänden und dem kopfsteingepflasterten Fußboden als eines der friedlichsten Fleckchen auf Erden beschreiben. Später, als Töpfermeisterin, würde sie ihren Schülern erzählen, daß es in der Töpferwerkstatt des Tempels von Lezentka gewesen sei, wo sie zum ersten Mal die Arbeit mit Ton zu schätzen gelernt hatte, und sie würde die schlichten gelben und roten Schalen des Dorfes beschreiben, als wären es alte Freunde, die sie nur widerstrebend zurückgelassen hätte.
    Aber zur Zeit fühlte sie sich eher wie eine Ziege, die gezwungen war, einen langen Winter in einem kleinen Stall zu verbringen. Dennoch gab es schlimmere Orte, an denen sie hätten festsitzen können, wie sie Arang oft erklärte. Die Menschen waren freundlich, das Essen war gut, und was dem Dorf an Schönheit fehlen mochte, machte die Natur wieder wett. Man hatte sie in einem kleinen Haus untergebracht, das sie ganz für sich allein hatten, und sie brauchten nur einen Schritt vor die Tür zu machen, um das Blaue Meer zu sehen, das noch blauer als in der morgendlichen Pracht von Marrahs Vision schimmerte. Das Wasser war warm und klar, voll unbekannter Fische und exotischer Muscheln, und die Strände waren mit kleinen weißen Kieseln übersät. Wenn die Wellen über die Steine spülten, machten sie ein sanft murmelndes Geräusch, das so sinnlich wie eine Liebkosung war.
    Wenn die Zeit nicht so gedrängt hätte und Marrah nicht so ängstlich darauf bedacht gewesen wäre, nach Shara zu kommen, hätte sie es vielleicht sogar vorgezogen, ein paar Monate in Lezentka zu verbringen, denn es war hier in vielerlei Hinsicht schöner als in Xori. Die Landschaft hatte etwas Verlockendes an sich, etwas Süßes und Geheimnisvolles, das von den Freuden vollkommener Hingabe an die Natur flüsterte. Goldener Weizen wuchs taillenhoch auf den Feldern, die Bäume trugen schwer an der Last der Früchte, und die Sonnenuntergänge waren ein einzigartiges Schauspiel: zuerst ein riesiger feuriger Ball, der hinter den westlichen Hügeln versank, dann eine vielzackige Krone aus Licht, die breite Strahlen von Rosa, Zinnoberrot und Purpur über einen weiten, leeren Himmel warf. In der ersten Woche hatte Marrah die erste Olive ihres Lebens gegessen, ihren ersten Becher Wein getrunken, in Butter gebratene Weinbergschnecken aus ihren Häusern gelöst und die erste Feige gegessen, die sie jemals gesehen hatte; sie kaute das süße getrocknete Fruchtfleisch und leckte sich den klebrigen Zucker von den Fingern.
    Obwohl der Winter bevorstand, war das Wetter meistens mild und sonnig. Bisweilen wehte ein kalter, böiger Wind von Norden her, und es regnete ein oder zwei Tage lang. Wenn dies geschah, verkrochen sich die Einheimischen in ihre Häuser und hockten klagend am Feuer, aber Marrah und Arang, die sich an den eisigen Frost in Xori erinnerten, gingen bei jeder Witterung hinaus. Oft nahmen sie einen Korb mit und gruben nach den süßlich schmeckenden kleinen Venusmuscheln, die unter dem Streifen Sand vergraben lagen, wo der Fluß ins Meer mündete, doch meistens unternahmen sie Spaziergänge aus Freude am Spazierengehen. Bald hörte der Regen wieder auf, die Wolken trieben auf die See hinaus, bis sie nicht mehr als ein Streifen von Weiß am Horizont waren, die Vögel stimmten erneut ihr Konzert an, die Dorfbewohner breiteten ihre Kleider am Strand zum Trocknen aus, die Luft erwärmte sich, und das goldene Sonnenlicht kehrte zurück.
    Stavan begleitete sie nur selten auf ihren Spaziergängen, da er es vorzog, allein umherzustreifen, um zu fischen oder zu jagen. Manchmal nahm er Arang auf einen seiner Ausflüge mit, aber er war immer noch vorsichtig. Wenn er sich dabei weiter als einen halben Tagesmarsch vom Dorf entfernte, ließ er Arang zurück, und an jenen Tagen strengte er sich zusätzlich an, um nach dem Abendessen noch Zeit mit ihm zu verbringen, ihm Geschichten zu erzählen oder ihm beizubringen, wie man einen Bogen mit Sehnen bespannte oder ein Stück Feuerstein zu einer passablen Pfeilspitze zurecht-schliff.
    Marrah beobachtete mit Freude, wie ernst Stavan seine Rolle als
aita
nahm, aber wenn er und Arang zusammen weggingen, blieb sie sich allein überlassen und wußte nicht so recht, was sie mit der vielen Zeit anfangen sollte. Das Volk des Blauen Meeres sprach eine Sprache, die wie Vogelgezwitscher klang, und oft, wenn sie müßig dasaß und die Leute dabei beobachtete, wie sie ihre täglichen Arbeiten verrichteten, wünschte sie, sie könnte an ihrem Klatsch und ihrem

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