Alteuropa-Trilogie 1 - Im Jahr der Pferde
Tiermenschen jeden Moment aus dem Grasmeer aufbrechen könnten? Wenn sie Flügel gehabt hätte wie die Seemöwe, der sie ihren Namen verdankte, wäre sie mit Arang auf dem Rücken davongeflogen, schneller, als Rhom in der Lage war, ihre Frage zu beantworten, doch statt dessen fühlte sie sich in diesem verflucht friedlichen Dorf in der Falle gefangen wie eine Fliege, die in einem Honigtopf gelandet war.
Ihre Ungeduld mußte offensichtlich sein, weil Rhom aufhörte, auf seine verantwortungslosen Vettern zu schimpfen, und ihre Hand ergriff, um sie tröstend zu streicheln. »Nun, nun«, meinte er beschwichtigend, »reg dich nicht auf, hübsche dunkeläugige Marrah. Du hast zwar deine Chance verpaßt, auf der Baßtölpel nach Gira zu segeln, aber die Graugans wird jetzt jeden Tag zurückerwartet, und vielleicht, wenn der Regen noch weiter ausbleibt, wird der Dorfrat einwilligen, daß du mit diesem Schiff zur Insel fährst, bevor der Winter beginnt.« Er zeigte auf ihre Halskette. »Schließlich tragt ihr beide, du und dein Bruder, Ihr Zeichen. Und welcher Seemann hätte nicht gern Passagiere an Bord, die Glück bringen, na? «
Marrah war ein wenig beruhigt, aber nicht vollkommen. Als Rhom erneut begann, seine Vettern in seiner eigenen Sprache zu verfluchen, legte sie einen tröstenden Arm um Arang und zog ihn an sich.
»Was werden wir jetzt tun? « flüsterte er, legte den Kopf an ihre .Schulter und blickte zu ihr auf, als wüßte sie eine Lösung für jedes Problem.
»Nun, wir warten auf die Rückkehr der Graugans«, erwiderte sie heiter, doch an dem Ausdruck in Arangs Augen erkannte sie, daß er sich wie gewöhnlich nicht so leicht täuschen ließ.
»Und was, wenn sie nicht kommt?«
Es war eine gute Frage, eine, auf die sie keine Antwort wußte. Was sollten sie tun, wenn keines der beiden Raspas vor Einbruch des Winters aufkreuzte? Konnten sie Gira umgehen und per Einbaum von einem Dorf zum anderen reisen, bis sie zu dem nächsten Ort auf Sabalahs Lieder-Landkarte gelangten? Oder, falls das unmöglich war, konnten sie dann vielleicht auf dem Landweg von Lezentka nach Shara gelangen, so wie sie von Gurasoak nach Lezentka gewandert waren?
Als das Willkommensfest zu Ende war, nahm Marrah Rhom beiseite und bat ihn, offen und direkt zu sprechen, ohne ihre Hand zu tätscheln oder sie dunkeläugige Schönheit zu nennen. »Weil ich nicht in Stimmung bin, mich durch deine Komplimente durchzukämpfen, bis ich endlich auf die Wahrheit stoße«, erklärte sie. Vielleicht klang sie ein wenig schroff, aber Rhom schien nicht beleidigt zu sein. Unter gewöhnlichen Umständen mochte er sich in blumigen Schmeicheleien und scherzhaften Bemerkungen ergehen, aber wenn sie wirklich einen Rat brauchte, konnte er sie wie eine seiner Schwestern behandeln.
»Die hiesigen Boote sind keine Möglichkeit«, erklärte er. »Sie halten sich an keinen festgelegten Zeitplan und verkehren nur sehr unregelmäßig, und es kann sein, daß du Monate warten mußt, um von einem Dorf zum anderen zu gelangen, besonders jetzt, da der Winter bevorsteht. Und auf dem Landweg nach Shara zu gelangen, ist erst recht keine Alternative. Es dauert so viel länger, um das Blaue Meer herumzuwandern, als es per Schiff zu überqueren, daß es kein Händler, den ich getroffen habe, je versucht hätte. Und außerdem, wenn ihr von der Route abweichen würdet, die eure Mutter besingt, wie solltet ihr dann euren Weg finden? Du und dein Bruder würdet ins Ungewisse wandern ohne ihren Geist, um euch zu führen. Nein, schlag dir das aus dem Kopf. Es gibt nur einen Weg, den du nehmen solltest: in einem guten, schnellen Raspa geradewegs nach Gira.«
Er blickte aufs Meer hinaus, das im Mondlicht kaum zu erkennen war. »Die Graugans könnte genau in dieser Minute direkt auf den Hafen von Lezentka zusteuern.« Er lächelte. »Also, ich wette um drei Honigwaben mit dir, daß du höchstens noch ein paar Tage hier sein wirst.«
Leider verlor Rhom seine Wette. Die Tage wurden zu Wochen, die Wochen zu Monaten, die Regenzeit setzte früh ein, wie es Rhoms unzuverlässige Vettern vorhergesagt hatten, und bald war für alle ersichtlich, daß die beiden Raspas entschieden hatten, in der Ferne zu überwintern.
Und so fand sich Marrah damit ab, warten zu müssen. Viele Jahre später sollte sie oft sagen, daß sie die Monate in Lezentka Geduld gelehrt hatten, und manchmal, wenn sie in einer besonders nostalgischen Stimmung war, würde sie den kleinen Tempel mit seinen weißgekalkten
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