Alteuropa-Trilogie 1 - Im Jahr der Pferde
nicht gewußt habe, daß Stavan seine Nächte am Strand verbringt, aber was sein angebliches Verlangen nach mir betrifft...« Sie hielt inne und überlegte angestrengt. »Vielleicht hast du in dieser Hinsicht recht und vielleicht auch nicht. Es ist möglich, nehme ich an, aber andererseits bin ich jetzt schon seit Wochen Tag und Nacht mit ihm zusammen, und er hat kein einziges Mal irgend etwas gesagt, was mich auf den Gedanken bringen würde, daß er auch nur das geringste Interesse daran hätte, die Lust mit mir zu teilen. Tatsächlich behandelt er mich die meiste Zeit, als wäre ich eine Dorfmutter.«
Sie warf das Netz auf den Boden, schlang ihre Arme um die Knie und runzelte die Stirn. »Wenn er mit mir liegen will, warum fragt er mich dann nicht einfach? «
Zastra nahm einen weiteren Schluck von ihrer Brühe. »Gute Frage. Ich habe gründlich darüber nachgedacht und bin zu dem Schluß gekommen, daß er dich nicht fragt, weil er einfach nicht weiß, wie er das anstellen soll.«
Marrah lächelte. »Du meinst allen Ernstes, ein ausgewachsener Mann wüßte nicht, wie er eine Frau fragen soll, ob sie die Lust mit ihm teilen möchte ?«
Zastra nickte. »Genau das meine ich. Jeder andere Mann wäre schon längst auf dich zugegangen und hätte etwas in der Art gesagt wie: ›Schöne Frau, ich mag dich sehr und würde gerne bei dir liegen‹, und dann hättest du ja oder nein sagen oder ihm erklären können, daß du bereits einen Partner hättest und nicht interessiert wärst oder daß du keinen Partner hättest und bereit seist, oder was auch immer man in einem solchen Fall sagt. Natürlich ist es auch möglich, daß in seinem Land andere Bräuche herrschen und daß dort die Frau diejenige ist, die den Mann fragt.«
Marrah dachte einen Moment darüber nach. »Das bezweifle ich. Nach dem, was Stavan mir erzählt hat, haben die Hansi-Frauen kaum mehr Rechte als ein Hund.«
»Tja, dann ist es wirklich ein Rätsel. Aber eines kann ich dir sagen: Als Arang plötzlich verschwunden war, dachte ich, Stavan würde den Verstand verlieren. Als er diese Löwenspuren sah, stieß er einen Schrei aus wie ein Mann, der Verbrühungen erlitten hat, und als er Arangs Tunika vollkommen zerrissen und blutverschmiert auf dem Waldboden liegen sah, zog er sein langes Messer hervor und hieb wüst fluchend auf die Bäume ein. Und als du ihn angeschrien hast, es wäre alles seine Schuld, brach er in Tränen aus. Du hast seine Tränen nicht gesehen, weil er dir den Rücken zukehrte, aber wir anderen haben ihn weinen sehen. Es gibt eine ganze Menge Dinge, die du nicht siehst. Wenn du nicht in seine Richtung schaust, dann starrt er dich an, als wollte er dich mit Haut und Haaren verschlingen.«
Zastra trank den letzten Rest ihrer Fischbrühe, stellte die Schale neben sich auf den Boden und wischte sich mit dem Handrücken den Mund ab. »Wer weiß, vielleicht sehe ich das alles ganz falsch; vielleicht bin ich nur eine Wichtigtuerin, die ein Schilfrohr sieht und glaubt, es sei ein Korb. Aber ich an deiner Stelle würde zumindest ausführlich mit ihm reden und herausfinden, warum er seine Nächte am Strand verbringt.«
Marrah wußte, es war ein guter Rat, doch sie zögerte, ihn anzunehmen. Trotz allem, was Zastra gesagt hatte, fiel es ihr schwer zu glauben, daß Stavan litt, weil er ihr nicht sagen konnte, daß er sie begehrte, und da er sich die Mühe gemacht hatte, allein wegzugehen, nachdem sie und Arang eingeschlafen waren, widerstrebte es ihr, seine Privatsphäre zu stören.
Höchstwahrscheinlich dachte er an etwas ganz anderes, wenn er aufs Meer hinausstarrte – an Pferde vielleicht oder wer weiß was, aber sicherlich nicht an sie –, und sie würde sich ziemlich blamieren, wenn sie ihn fragte, ob er vielleicht insgeheim den Wunsch hege, die Lust mit ihr zu teilen. Entweder würde er beleidigt sein über die Unterstellung, daß er nicht wüßte, wie man eine Frau fragte, oder aber er würde glauben, es sei ein ungeschickter Annäherungsversuch ihrerseits, was in Ordnung gewesen wäre, wenn sie ihn begehrt hätte, doch sie war sich dessen nicht sicher.
Sie vermißte Bere, auch wenn sie wußte, daß sie damit rechnen mußte, ihn niemals wiederzusehen, und obgleich sie große Zuneigung zu Stavan empfand und sogar schon zu denken begonnen hatte, daß gelbes Haar und blaue Augen doch gar nicht so häßlich aussahen, waren ihre Gefühle für ihn nicht klar. Einen Mann aufzufordern, die Lust mit einem zu teilen, und ihm dann im nächsten
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