Alteuropa-Trilogie 2 - Die Schmetterlingsgöttin
bandagiere.« Hiknak setzte sich hin und wickelte mehrere Streifen weichen Leders um ihr Sprunggelenk. »Wir müssen bitte langsam gehen! «
Sie verließen die Stadt und winkten Redra zu, als sie durch das Tor kamen. Zuerst war der Weg nicht sonderlich beschwerlich. Sie folgten einfach einem schmalen Lehmpfad, der sich zwischen Weiden und Feldern hindurchwand. Aber als der Pfad steil bergauf in die Hügel zu führen begann, schreckte Keshna zurück. Sie setzte sich auf den Boden, verschränkte ihre kleinen Arme vor der Brust und weigerte sich beharrlich, noch einen einzigen Schritt zu tun; zwar redeten Marrah und Hiknak freundlich auf sie ein, aber sie knurrte böse und spuckte sie an.
»Heb sie auf und trag sie«, befahl Glyntsa.
Da Hiknaks Hand zu kraftlos war, um Keshna zu tragen, bückte Marrah sich und klemmte sich Keshna unter den Arm. Keshna begann sofort zu zappeln, mit den Füßen zu treten und aus Leibeskräften zu schreien, aber zumindest biß sie nicht. Es war, als verschleppte man ein wildes Bärenjunges, und Marrah befürchtete mehrere Male, Keshna würde aus ihren Armen rutschen und sich auf dem felsigen Pfad den Kopf aufschlagen; nach einer Weile hingegen verlor Keshna entweder das Interesse am Schreien, oder ihr ging die Luft aus, und bis sie die Kuppe des ersten Hügels erklettert hatten, klammerte sich Keshna verdrießlich an Marrahs Rücken.
Sie war ein schweres kleines Ding, aber Marrah hatte damals auf ihrer fast zwei Jahre währenden Reise vom Meer der grauen Wogen nach Shara einen großen Korb geschleppt, wie ihn die Wanderhändler benutzten; deshalb trottete sie unbeirrt weiter und ignorierte das dumpfe Knurren, das Keshna jedesmal von sich gab, wenn sie stehenblieb, um zu verschnaufen.
Sie wanderten immer weiter bergauf, und es wurde ständig ein wenig steiler. Die Hügel schimmerten blaugrau im winterlichen Licht, rund wie die Rücken fetter Igel und mit den Stacheln kahler Bäume bedeckt. Nach einer Weile bewölkte sich der Himmel über ihnen; die Kälte nahm zu, so daß Marrahs Nase prickelte und ihre Hände trotz der dicken, pelzgefütterten Handschuhe wie erstarrt waren, als Glyntsa schließlich auf einen kleineren Pfad wies, der von dem Hauptweg abzweigte.
Wenig später erreichten sie eine steile Felswand. Eine kleine, teilweise zugefrorene Quelle plätscherte aus einer Spalte und floß in einen von Eisschollen gesäumten Teich. Auf der anderen Seite des Teiches saß eine dick vermummte Gestalt auf einem flachen Stein. Der Umhang hüllte sie so vollkommen ein, daß nicht einmal eine Fingerspitze zu sehen war. Das Ding hätte ein Mann oder eine Frau oder auch eine Tonstatue sein können – aber was es auch war, es mußte etwas Wichtiges sein.
Glyntsa blieb stehen, als sie das Wesen erblickte, kniete nieder, nahm eine Handvoll Erde auf und hielt sie einen Moment ehrfürchtig in beiden Händen. Dann küßte sie die Erde und legte sie so sorgfältig wieder zurück, als ob es eine Kostbarkeit wäre.
»Das Imsha«, flüsterte sie Marrah und Hiknak zu, als sie wieder hochkam. Sie richtete sich kerzengerade auf und erhob die Stimme. »Ehrwürdiges Imsha«, flehte sie in Alter Sprache, »ich bringe dir ein Kind, das shohwar ist. Was sollen wir mit ihr beginnen?«
Das Imsha stieß ein gedämpftes, überraschendes Lachen aus. Es hätte das Lachen einer alten Frau oder eines jungen Mannes sein können, und es war so warm und süß wie Honig. »Wirf sie in den Teich«, befahl das Imsha.
Marrah übersetzte für Hiknak. »Das Ding da drüben, was es auch sein mag, ist wohl wahnsinnig!« schrie Hiknak empört. »Es ist so bitterkalt, daß einem die Haare in der Nase frieren. Ich dachte, diese Heilquelle wäre warm. Wenn du dir einbildest, daß ich meine Tochter ausziehen und da hineinwerfen werde«, sie zeigte auf das Eis, »dann irrst du dich! «
Aber Glyntsa hatte nicht die Absicht, Keshna auszuziehen. Bevor Marrah noch protestieren oder Hiknak sie daran hindern konnte, hatte Glyntsa das kleine Mädchen bereits gepackt und in den Teich geworfen. Als Keshna in das eisige Wasser fiel, brüllte sie so mörderisch, als wäre sie verbrüht worden. Sie ging einmal unter und tauchte hustend und spuckend und wild mit den Armen rudernd wieder auf. Seit dem Tag des Nomadenüberfalls war sie nicht mehr im Wasser gewesen, und sie mußte vergessen haben, wie man schwimmt, weil sie sofort ein zweites Mal unterging.
»Du ertränkst meine Tochter! « schrie Hiknak und wollte auf den Teich zulaufen, um
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