Alteuropa-Trilogie 2 - Die Schmetterlingsgöttin
wahnsinnig wurden. Ich mag Glyntsa und Kal, aber die Lebensweise der Katakaner ist nicht unsere Art, und wer weiß, was ich auf ihr Geheiß im Namen der Dunklen Mutter alles vollbringen soll.«
»Sei kein Dummkopf«, erwiderte Hiknak. »Wenn sie dir dieses Ritual anbieten, dann nimm das Angebot an.« Sie brachte ihr Gesicht dicht vor das Marrahs. »Du bist mutig gewesen, als dich die Hansi gefangennahmen; du bist mutig gewesen, als sie dich an den Pfahl neben Zuhans Grab fesselten; du bist mutig gewesen, als wir die Kundschafter überlistet und ihre Pferde gestohlen haben; und sogar noch mutiger, als wir Nikhan mit unseren Dolchen bedrohten.
Vielleicht bist du nicht fähig, einen Speer von einem galoppierenden Pferd aus zu schleudern, aber du wirst die Kriegskönigin van Shara sein und hast eine Chance, dir eine Kraft anzueignen, die die Nomaden niemals besitzen werden. Ich weiß nicht,wie ich es nennen soll, aber wenn Glyntsa dir ihren Vorschlag unterbreitet und du ›nein‹ sagst, wirst du es bereuen.« Sie leckte sich über ihre dünnen, aufgesprungenen Lippen, und ihre grauen Augen wurden schmal. »Du wirst den kalten Fluch über uns alle bringen.«
»Was ist der kalte Fluch?«
»Kaltes Herz, kalter Kopf, kalter Schoß, kaltes Bett.«
Marrah schauderte. Den Hansi-Worten haftete ein übler Klang an, der ihr eine Gänsehaut über den Rücken jagte. Hiknaks Sichtweise der Welt hatte oft etwas Primitives und sogar leicht Ungereimtes an sich, aber ausnahmsweise einmal wußte Marrah genau, was sie meinte.
11. KAPITEL
Die Dunkle Mutter macht drei Geschenke:
Aba, Shallah, Nashah.
Eines bringt der Fluß.
Eines schenkt die Erde.
Eines gewährt das Land der Träume.
Aus »Das Rätsellied«. Kataka, 5. Jahrtausend v. Chr.
Erste Einweihung: Ein Geschenk aus dem Fluß
Knie nieder und nimm die Rindentüte in die Hand. Schütte farbigen Sand hinein: Nimm Umbrabraun, Gelb und Amethyst; nimm Goldstaub und gemahlenen Ocker; mische das Purpurrot spätsommerlicher Himmel bei, das Schwarz des Körpers der Göttin Erde, das Braun und Grün der Hügel, das Grau von Entendaunen, das Weiß des Kranichs, das Blau des Reihers, das Schwarz des Habichts; füge die Farbe von Rehkitzaugen hinzu, die Farbe des Fuchsschwanzes, des Brustfells der Wölfin, des Froschrückens, nimm die Farben des Regenbogens und des Sturms.
»Verstehst du, wie die Sandgemälde gemacht werden?« fragte Königin Glyntsa Marrah.
»Ja«, antwortete Marrah.
»Dann tritt vor und fange an.«
Marrah gehorchte. Sie stand inmitten der Priesterinnen in dem Haupttempel von Kataka und begann mit dem farbigen Sand zu malen, aber ihre Hand war zu zittrig. Grün rieselte aus der Rindentüte und floß in das Braun, die roten Körnchen vermischten sich mit den schwarzen, und alles geriet durcheinander.
»Wie kann ich meine Hände ruhighalten?« fragte sie hilflos. »Indem du nicht an sie denkst«, riet Glyntsa ihr.
Marrah versuchte, ihre Gedanken auf etwas anderes zu konzentrieren, aber leider drängten sich ihre Hände laufend in den Vordergrund. Wieder trat sie vor und hub an zu malen, wieder wurden die Linien schief, und die Farben liefen ineinander, so daß verwischte Kleckse entstanden. Um sie herum wirkten die Priesterinnen von Kataka mit schneller, sicherer Hand, und nicht ein Körnchen Farbe fiel an den falschen Platz.
»Wie schaffen sie das im Gegensatz zu mir?«
»Sie rezitieren die heiligen Namen der Dunklen Mutter: Aba, Shallah, Nashah!«
Marrah füllte ihre Rindentüte mit weißem Sand nach und trat erneut vor. Aba, Shallah, Nashah, betete sie. Aba, Shallah, Nashah. Wieder und wieder sagte sie in Gedanken die Namen der Dunklen Mutter auf, und nach einer Weile schien sich ihre Hand wie von selbst zu bewegen.
Aba, Shallah, Nashah. Sie malte einen kleinen weißen Hund. Aba, Shallah, Nashah. Nun entstand eine kunstvolle grüne Weinranke.
Aba, Shallah, Nashah. Es folgte eine blaue Blüte mit gelben Staubgefäßen. Eine Biene saß auf einem der Blütenblätter, die geäderten Flügel gespreizt, die Haare auf ihren Beinen waren dünner als Menschenhaar, aber Marrah zeichnete sie mit ruhiger Hand, und kaum ein Sandkörnchen fiel an die falsche Stelle.
Jeden Tag kam sie in den Tempel, rezitierte die Namen der Dunklen Mutter und ließ den Sand rieseln, wohin er wollte. Nach einer gewissen Zeit schien es, als gehörten ihr ihre Hände nicht mehr.
»Wir malen die heiligen Bilder nicht selbst«, sagte Glyntsa. »Die Dunkle Mutter malt
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