Alteuropa-Trilogie 2 - Die Schmetterlingsgöttin
durch uns.«
»Ich verstehe.«
Ein Säugling mit Ohrenschmerzen wurde in den Tempel gebracht. Marrah zeichnete ein Ohr; sie malte eine Holzflöte, singende Lerchen, Blätter, die im Wind wirbeln, Wasser, das über feinen Kies sprudelt. Als das Bild fertig war, liefen sie und die anderen Priesterinnen hin und her und verstreuten den Sand in alle Richtungen. Sie riefen die Namen der Dunklen Mutter, und das Kind hörte auf zu weinen.
»Sein Ohr schmerzt nicht mehr.« Glyntsa hob den kleinen Jungen hoch und legte ihn in Marrahs Arm, und Marrah dachte, ihn einen Moment fest an sich drückend, sehnsüchtig an Keru.
Zweite Einweihung: Ein Geschenk der Erde
Glyntsa führte Marrah in ihr Haus und wies sie an, sich zu setzen. Sie schenkte eine Tasse frischer Ziegenmilch ein und stellte sie auf einen niedrigen Tisch neben Marrahs Stuhl. »Heute wirst du lernen, die Sprache der Tiere zu verstehen«, verkündete sie.
Marrah neigte respektvoll den Kopf, während sie insgeheim dachte, daß das natürlich unmöglich war. Sie blickte zu der Maske der Dunklen Göttin auf, die über der Tür hing. Die Göttin lächelte fröhlich auf sie herab, als hätte sie Spaß an einem Scherz auf ihre Kosten.
»Hunde sind am leichtesten zu verstehen«, fuhr Glyntsa fort. »Sie wollen so gern mit uns sprechen, daß sie es ständig versuchen. Spinnen sind am schwierigsten zu begreifen: Sie sind scheu und machen sich nicht viel aus Menschen – aber in ihrer Klugheit sehen sie alles. Hast du schon jemals ein Tier sprechen hören? «
»Da war ein Spatz, der früher jeden Morgen an mein Fenster kam. Ich habe mir immer Unterhaltungen mit ihm ausgedacht.«
»Und was hast er gesagt?«
»Daß ich eine glückliche Frau wäre.«
»Hatte der Spatz recht? «
»Nein, ich war in Not – oder besser gesagt, ich war im Begriff, Unglück zu erfahren. Der Spatz kam das letzte Mal an dem Morgen, als mein Sohn Keru von den Nomaden geraubt wurde, und sollte er danach je wiedergekommen sein, habe ich es nie bemerkt.«
»Spatzen lügen nicht absichtlich, aber sie verharren in Unschuld, zu ihrem eigenen Besten! Sag mir, welches Tier liebst du am meisten?«
Versonnen befingerte Marrah das Armband aus Pferdehaar an ihrem Handgelenk. »Ich hatte einmal eine Stute namens Eoru, die ich sehr liebte, aber Changar, mein Feind, opferte sie seinem Gott.«
Glyntsa preßte die Lippen zusammen und verzog das Gesicht zu einer grimmigen Miene. »Ein Frevel! Hiknak hat mir erzählt, die Nomaden verehren ihre Götter, indem sie sich und anderen Leid zufügen. Sie sagte, die Nomaden töten manchmal fünfzig Pferde auf einmal, wenn einer ihrer Häuptlinge stirbt, und sie opfern Frauen und kleine Kinder, um sie mit in das Grab zu legen. Die Dunkle Mutter, die nichts als Freude und Glück für ihre Kinder will, muß weinen, wenn sie diese Dinge sieht ... aber jetzt ist nicht die Zeit, um über solche Greuel zu sprechen. Ich frage dich noch einmal: Welches Tier hast du, abgesehen von deiner toten Stute, am meisten geliebt?«
Marrah überlegte eine Weile. »In dem Dorf, in dem ich geboren wurde, gab es zwei Hunde. Sie hießen Zakur und Laino, und ich habe sie fast so innig geliebt wie meine Mutter und meinen Bruder.«
»Dann werden wir mit Hunden anfangen.« Glyntsa ging hinaus und ließ Marrah ein paar Haselnüsse zum Knacken zurück, da
in ihrem Haus jemals müßig herumsaß. Bald kehrte sie mit einem kleinen, zotteligen braunen Welpen zurück, und ein alter weißer Hund, der Wolfsblut in seinen Adern zu haben schien, humpelte hinter ihr her.
Marrah stellte den Korb mit Nüssen beiseite und nahm den Welpen in die Arme; er leckte ihr überschwenglich das Gesicht und angelte mit seinen dicken Pfoten nach ihren Haaren. Sie lachte und drückte ihn an sich, aber er zappelte so heftig, daß sie ihn kaum halten konnte. Der alte Hund stand einige Schritte von ihr entfernt und schaute einen Moment zu. Schließlich kam er näher, streckte sich steifbeinig zu Marrahs Füßen aus und legte seine Schnauze quer über ihre Stiefel.
Glyntsa brachte ein großes Kissen und schob es hinter Marrahs Kopf. Dann zog sie einen kleinen Lederbeutel aus ihrer Tasche und leerte den Inhalt auf einen Tonteller. Marrah sah getrocknete Blüten, pulverisierte Rinde und etwas, das wie gemahlene Nüsse aussah. Die Mischung roch süß und scharf und erdig, wie ein Flußufer.
»Wir nennen das hier Tamah, was ›Tierzungen‹ bedeutet.« Glyntsa griff nach der Tasse mit Milch, rührte eine winzige
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