Alteuropa-Trilogie 2 - Die Schmetterlingsgöttin
Shara.
»Aba«, flehte sie, »verleih mir diese Gabe; Shallah, laß es geschehen; Nashah, mach mich sehend! « Nach einer Weile fügte sie den Namen Batal ihrem Gebet hinzu, weil die Dunkle Mutter und die Mutterschlange in Wirklichkeit ein und dieselbe Göttin waren, die nur verschieden genannt wurden. Ihre Gedanken stiegen auf und wirbelten durcheinander wie ein Bienenschwarm; trotz aller Bemühungen schaffte sie es nicht, in Trance zu versinken.
Ich bin wie eine Eule mit gebrochenen Flügeln,
dachte sie traurig.
Seit Stavan tot ist, bin ich innerlich zerbrochen. Ich bin nicht gut als Priesterin und nicht gut als Königin. Wenn Stavan lebte, hätte er mir vielleicht sagen können, wie ich mein Volk retten kann, ohne daß es zu einem Kampf kommt – aber ich selbst finde einfach keine Lösung. Seit er tot ist, bin ich taub gegenüber meiner eigenen Seele geworden.
Wieder strömten Tränen über ihr Gesicht; ungeduldig wischte sie sie ab und fuhr fort zu beten, aber noch immer geschah nichts.
Gerade als Marrah voller Verzweiflung aufgeben wollte, erhörte die Dunkle Mutter plötzlich ihre Gebete. All der Kummer und die Sorgen, die sie auf ihrem langen Ritt nach Shara unablässig gequält hatten, verblaßten mit einem Mal; sie fühlte, wie etwas Sanftes die Arme nach ihr ausstreckte und sie umarmte, etwas so Süßes und so von Mitgefühl Erfülltes, daß es war, als ruhte sie in den ewigen Armen.
Jählings blieb die Zeit stehen, das Netz dehnte sich aus, und sie erblickte wieder die Fenster. Sie kamen aus der Dunkelheit wie überdimensionale Augen und waren viel, viel größer als damals im Wald, so groß, daß jede Öffnung wie der Eingang zu einem riesigen Tal schien; aber sie sah keine Vergangenheit oder Gegenwart oder Zukunft in ihnen und auch keine Menschen – sondern nichts als Wasser.
Das Wasser hatte die Farbe Grüngrau und schien gegen eine unsichtbare Barriere zu schwappen. Es sah so echt aus, daß Marrah sich instinktiv duckte, weil sie erwartete, durchnäßt zu werden, als es das erste Mal in ihre Richtung brandete; aber die Flut erreichte sie nicht, und sie konnte sie nicht berühren.
Als sie genauer hinschaute, sah sie kleine Wellen in den oberen Fenstern des Netzes und darüber einen schmalen Streifen blauen Himmels. Darunter, am untersten Rand der Maschen, erkannte sie eine matt erleuchtete Fläche blassen Sandes, mit weißen Muscheln gesprenkelt. Sie kannte die Muscheln, denn oft hatte sie ein köstliches Ragout aus den kleinen Tierchen gekocht, die in den Schalen lebten. Noch während sie hinschaute, schwamm ein Schwarm Elritzen vorbei, deren silbrige Bäuche in den Schatten glitzerten.
»Was ist das für ein merkwürdiges Rätsel!« rief sie. »Liebe Mutter, bitte laß mich die Zukunft sehen! Sag mir, wie ich die Nomaden dazu zwingen kann, wieder abzuziehen ...« Es gab keinerlei Möglichkeit, den Satz zu beenden. In dem Moment, als sie zu sprechen begann, erwachte die Zeit aus ihrem Stillstand, das Netz schrumpfte zusammen, und die Fenster verschwanden. Eine Weile saß Marrah auf der Plattform und versuchte, wieder zu Atem zu kommen. Als sie sich schließlich auf die Füße erhob, schlotterten ihre Beine vor Schwäche.
Sie legte ihre Handflächen auf ihr Herz, verbeugte sich vor dem Netz und dankte der Dunklen Mutter für ihre Gnade. Dies war eine echte Vision gewesen, ein heiliges Geschenk, aber leider auch eines, das Marrah vollkommen verwirrte. Die Dunkle Mutter hatte sie das Innere des Ozeans mit den Augen eines Fisches sehen lassen, aber warum? Was sollte eine solche Vision nur bedeuten? Ob sie von einer Flotte von Raspas gerettet werden würden? Sollte der Süßwassersee ansteigen und die Nomaden in seinen Fluten ertränken? War die ganze Welt dabei, sich in Wasser zu verwandeln?
Marrah setzte sich erneut nieder und probierte es noch einmal; und wieder erschienen die Fenster, und wieder sah sie denselben beunruhigenden Anblick: Meer, Sand, Muscheln; Muscheln, Fische, Meer. Das Imsha in seiner Weisheit hätte das Rätsel vielleicht erklären können, aber Marrah konnte es nicht, und jenen am Nachmittag zusammengerufenen Priesterinnen und Priestern der Stadt gelang es genausowenig.
Nachdem Arang und der Ältestenrat ebenfalls vergeblich versucht hatten, ihre Vision zu interpretieren, hörte Marrah auf, ein rettendes Wunder zu erflehen. Die Dunkle Mutter hatte in einer Sprache zu ihr gesprochen, die niemand verstand. Wenn sie genug Zeit gehabt hätten, dann hätten sie unter
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