Alteuropa-Trilogie 2 - Die Schmetterlingsgöttin
ein Mensch, der in einem kleinen Boot aufs Meer hinaussegelt.
»Großmutter, das ist nicht möglich«, sagte Marrah ruhig, aber Lalah schien sie nicht zu hören.
»Bring mir meinen Bogen. Ich bin immer eine gute Schützin gewesen. Pfeile brauche ich auch, und achte darauf, daß sie spitz sind.« Lalah machte Anstalten, sich zu erheben, doch sie mußte es sich wohl anders überlegt haben, denn sie setzte sich wieder. Sie blickte Marrah an, und Verwirrung breitete sich auf ihrem Gesicht aus. »Warum bringst du mir nicht meinen Bogen, Marrah? Soll ich vielleicht den ganzen Tag warten?«
»Aber, Großmutter ...«
»Beeil dich. Ich bin eine vielbeschäftigte Frau. Und bring Sabalah zu mir, wenn du schon mal da bist. Es ist dringend! Sie kann jetzt nicht in den Westen gehen, weil sie an meiner Seite kämpfen soll.«
Als sie ihre Großmutter nach ihrer Mutter verlangen hörte, war Marrah zumute, als würde ihr plötzlich der Boden unter den Füßen weggezogen. Sie versuchte zu erklären, daß Sabalah Shara bereits vor endlosen Jahren verlassen hatte, aber entweder verstand Lalah nicht, oder sie wollte es nicht wahrhaben. Lalah erhob sich von ihrem Platz, umarmte Marrah und flehte sie mit Tränen in den Augen an, ihr einen Bogen und Pfeile zu bringen, damit sie und Sabalah hinuntergehen und gegen die Nomaden kämpfen könnten; erst nachdem Marrah versprochen hatte, sich darum zu kümmern, bekam sie die Erlaubnis zu gehen.
Erschüttert machte sie sich auf die Suche nach Arang, den sie damit beschäftigt fand, nach den Knochensensen zu suchen, die sie immer zur Weizenernte benutzten. In der allgemeinen Aufregung und Hast ihrer Evakuierung auf die Klippen hatten die Leute ihre Habseligkeiten abgestellt, wo immer sich gerade Platz bot; es dauerte ewig, den Hausrat zu sortieren und Ordnung in das Durcheinander zu bringen.
»Du hast Großmutter also gesehen«, sagte Arang. Er legte Marrah einen Arm um die Schultern, und sie schlang ihm die Arme um die Taille; so standen sie Seite an Seite wie zwei Kinder, die sich in den Wäldern verirrt hatten.
»Wie lange ist sie schon so sonderbar?« wollte Marrah wissen.
»Seit ein paar Monaten. Kusine Inhala sagt, sie hätte angefangen, sich ein bißchen seltsam zu benehmen, kurz nachdem du fortgegangen warst. Aber als Lalah hörte, daß die Nomaden kämen, um Shara anzugreifen, wurde es noch viel schlimmer mit ihr.«
»Warum hat keiner nach mir geschickt?«
»Der Ältestenrat meinte, du wärst in Kataka besser aufgehoben. Sie wollten, daß du die vollständige Einweihung erfährst.«
»Und Onkel Bindar?«
»Er hat sein Bestes gegeben, um die Stadt zu regieren, bis ich mit der Nachricht von Stavans Tod auftauchte, und daß Vlahan samt seinen Kriegern unterwegs nach Süden sei. In normalen Zeiten hätte Bindar uns eine Menge wertvoller Ratschläge geben können, aber jetzt ...« Er zuckte hilflos die Achseln.
»Dann bleibt die Verteidigung von Shara also ganz allein uns überlassen? «
»Ja, das fürchte ich.«
Marrah seufzte schwer und ließ Arang los. »Komm, Bruder«, sagte sie energisch. »Es wird Zeit für die Kriegskönigin und den Kriegskönig zu verkünden, daß alle unter fünfzig den Pfad hinunterklettern und Weizen ernten müssen.«
Und so gingen sie auf die in bleichen Mondschein getauchten Felder und rafften soviel zusammen, wie sie konnten; als die Sonne aufging, warfen sie Fackeln in das restliche Getreide, womit ihre eigenen Rauchsäulen aufstiegen zur Antwort auf die Wolken im Norden.
Dann kletterten sie zu der ersten Wegbiegung hinauf und schoben keuchend und schwitzend mehrere große Felsblöcke bergab, um den Aufgang zu den Klippen zu blockieren. Nachdem die Felsen an Ort und Stelle gerollt worden waren, zogen sich alle wieder auf ihr Plateau zurück und schauten zu, wie mehrere junge Männer und Frauen des Verbandes für die Verteidigung von Shara knapp unterhalb der Stelle, wo die Seile gespannt waren, ein Stück des Pfades ausgruben. Während sie arbeiteten, husteten sie heftig und
rangen ächzend nach Luft, in den Rauch von den Feldern eingehüllt; der brannte in ihren Augen und verfärbte die Sonne blutrot.
Nicht wenige Leute erhoben heftige Einwände gegen die Verbrennung des Weizens, weil es ihrer Ansicht nach eine schreckliche Verschwendung war und eine Schmähung der Geschenke der Göttin Batal; aber der Ältestenrat unterstützte Marrah und Arang, und so war das Vorhaben in die Tat umgesetzt worden – gerade noch rechtzeitig! Denn an jenem
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