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Alteuropa-Trilogie 2 - Die Schmetterlingsgöttin

Titel: Alteuropa-Trilogie 2 - Die Schmetterlingsgöttin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mary Mackey
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Streifen vom Saum ab, so daß die Tunika nur noch bis zu ihren Knien herabhing, als sie sie über den Kopf zog.
    Ohne innezuhalten, um ihr Werk zu bewundern, bückte sie sich und griff nach ihrem Stützstock. Sie balancierte den Stock aus poliertem Kirschholz in ihrer Hand und blickte voller Befriedigung auf den Griff, der in Form einer kleinen geringelten Schlange geschnitzt war. Allerdings sah sie ihn nicht als Stock, sondern als einen Speer mit einer Feuersteinspitze.
    Es war ein guter Speer, der beste, den sie je besessen hatte. Aber wessen Hand war dies? Wessen runzlige Haut und dürre Finger?
    Verwirrung hüllte sie erneut ein wie eine schwarze Wolke. Sie blinzelte verständnislos, und dann lachte sie unvermittelt hellauf. Was hatte sie da bloß für einen Unsinn gedacht? Die Hand, die den Speer hielt, war natürlich die einer zwanzigjährigen Frau, einer Frau, die die Kraft hatte, ihn fünfmal so weit wie ein Mann zu schleudern. Hier stand die junge Lalah mit glatten und starken Fingern, und die Macht der Göttin war in ihnen.
     
    Auf der anderen Seite des Lagers schafften es die Sharaner nur mit Mühe, sich gegen die Attacke der Nomaden zur Wehr zu setzen. »Schießt!« brüllte Jutima – wieder schossen die sharanischen Bogenschützen, und ihre Gegner antworteten auf die gleiche Weise, so daß ein ohrenbetäubender Lärm und Verwirrung herrschte. Ein Zelt brannte, weil seine ehemaligen Bewohner bei der Flucht eine Lampe umgestoßen hatten. Der Rauch war beißend; er stieg den Wachen in die Kehle und ließ ihre Augen tränen; aber er verschaffte ihnen auch ein klein wenig Deckung, und deshalb waren sie dancbar dafür.
    »Zielt auf...« Der Befehl erstarb auf Jutimas Lippen, als Lalah, Königin von Shara, plötzlich und völlig unerwartet aus den Rauchwolken auftauchte, einen Stock schwingend, während sie lauthals verkündete, daß sie gekommen sei, die Große Schlange zu verteidigen.
    Die Königin war ein beeindruckender Anblick: Ihr graues Haar war nicht zusammengebunden und flog wirr in alle Richtungen, auf ihrem Gesicht ein wildes Leuchten. Sie bewegte sich mit der Schnelligkeit einer sehr viel jüngeren Frau, und die Wachen machten ihr unwillkürlich Platz, bevor ihnen aufging, daß Lalah unbewaffnet war und mitten in die Gefahr hineinrannte.
    »Haltet sie auf!« schrie Jutima, aber Lalah war zu schnell und entwand sich all den Händen, die nach ihr griffen und sie zu bremsen versuchten.
    »Batal! « schrie Lalah trotzig, während sie ihren Stock schwang, als ob er ein Speer wäre. »Batal und Sieg! «
    »Großmutter!« rief Marrah entsetzt. »Zurück! Geh zurück!« Aber ihre Warnung ging in dem alarmierten Schrei aus den Kehlen der Wachen unter, als diese ihre alte Königin völlig ungeschützt auf den Pfad zustürmen sahen.
    Bevor irgend jemand zu ihr laufen und sie in Sicherheit bringen konnte, bohrte sich ein feindlicher Pfeil in ihren Arm. Als ihre Königin getroffen wurde, schrien die Sharaner wie aus einer Kehle auf vor Empörung; doch Lalah blieb einfach nur stehen und betrachtete den Schaft, der aus ihrem Arm herausragte, mit kindlicher Bestürzung und Verwirrung, als verstünde sie das ganze Geschehen nicht so recht.
    Da sie sich nicht regte, bot sie ein perfektes Ziel. Wieder sirrte ein feindlicher Pfeil herab und bohrte sich in ihre Brust. Sie taumelte ein paar Schritte zurück und ließ ihren Stock fallen – das Licht in ihrem Gesicht erlosch.
    »Sabalah!« rief sie mit überraschend lauter Stimme. »Sabalah, meine Tochter, komm und hole mich! Ich bin verletzt!« Tränen sammelten sich in ihren Augen. Sie blickte ein letztes Mal zurück auf die entsetzten Sharaner, dann ging sie in die Knie und brach ganz langsam auf dem Boden zusammen.
    Lange Zeit regneten die Nomadenpfeile unaufhörlich um Lalah herum nieder, und bis Marrah und die anderen endlich zu ihr gelangen konnten, war sie tot.
    Marrah hätte nicht zu sagen vermocht, wie lange die Schlacht noch weitertobte, nach dem Ende ihrer Großmutter. Sie wußte nur, daß sie wieder und wieder in die Schußlinie rannte, um mehr Pfeile zu sammeln und die Verwundeten in Sicherheit zu bringen, bis die Tränen auf ihren Wangen trockneten und ihr der Atem in der Kehle brannte.
    Schließlich stellten die Nomaden auf dem Grat den Beschuß ein. Vielleicht stiegen ihre Verluste deshalb so drastisch an, da längst das Element der Überraschung vertan war; oder es hatte sie zermürbt, daß sie nur in einen kleinen Teil des Lagers schießen konnten.

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