Alteuropa-Trilogie 2 - Die Schmetterlingsgöttin
schmeckte. Es bestand zwar immer noch eine Spur von Hoffnung, daß der Steppenhäuptling mit seinen Kriegern abziehen würde, sobald er erkannte, daß Arang tot war; aber andererseits – warum sollte er? Er hatte die Sharaner in der Hand. Alles, was er und seine Gefolgsleute tun mußten, war, weiter zu morden – und die Hansi liebten den Krieg.
»Liebe Göttin, ich flehe dich an!« betete sie. »Gib mir die Kraft, Lalahs und Arangs Tod zu ertragen und den Tod so vieler meiner Stammesbrüder. Gib mir den Willen und die Kraft weiterzumachen, gib mir irgendein Zeichen, damit ich verstehen kann!«
Aber die Göttin schickte keinerlei Zeichen, und als Marrah aufstand und zum Rand des Felsvorsprunges ging, um auf das Nomadenlager hinunterzublicken, sah sie, daß Vlahan mit seinen Mannen seinen tückischen Erfolg feierte.
Den ganzen Morgen über saßen die Nomaden vor ihren Zelten, schlugen auf ihre Trommeln und tranken Kersek. Manchmal erhoben sich ein Dutzend oder mehr Krieger auf die Füße und führten einen wilden Tanz auf, von einem Kreis dunkel gekleideter Frauen umringt, und zweimal mußten die Sharaner von den Klippen aus mit ansehen, wie Pferde geopfert wurden. Als das zweite Opferritual vorbei war und die Frauen die Pferde ausgenommen hatten, verstummte das Dröhnen der Trommeln – eine Zeitlang geschah nichts.
Die Sharaner warteten und beobachteten weiterhin wachsam das Nomadenlager. Am frühen Nachmittag erhob sich eine kühle Brise vom Süßwassersee, die den Staub und die Asche der Stadt hochwirbelte, so daß es schien, als brenne Shara ein zweites Mal. Ein schmutziger Schleier erhob sich in den Himmel und verdunkelte den Horizont; als Marrah abwartend auf den Klippen stand, um zu sehen, was die Nomaden als nächstes vorhatten, brannte jene Mahnung an die Niederlage ihres Volkes in ihren Augen und nahm ihr den Atem.
Am späten Nachmittag flaute der Wind ab, und die Sonne brach sich Bahn. Als die Schatten der Nomadenzelte so lang wurden, daß sie einander berührten, ritt ein Verband von Kriegern aus dem Lager und galoppierte auf die Klippen zu. Es war eine seltsame Truppe, zu klein für eine neuerliche Attacke und wiederum zu groß, um lediglich eine Wachablösung zu sein. Fünf der fünfzehn Reiter waren ganz in Weiß gekleidet, was auf deren Bedeutung hinwies; eine der Gestalten war eine Frau und eine ganz eindeutig ein Kind.
Marrah stand neben Hiknak und Dalish, und als sich der Trupp dem Fuß der Klippen näherte, verwandelte sich ihre Verwirrung zuerst in Überraschung, dann in freudige Erregung, schließlich in blankes Entsetzen.
Der Anführer des Reiterverbandes war Vlahan; Changar ritt zu seiner Linken neben Keru, der auf einem Pony saß; aber es war der Mann auf Vlahans rechter Seite, der in Marrah den Drang weckte, vor Erleichterung in Tränen auszubrechen und zugleich den grausamen Streich zu verfluchen, den die Nomaden ihnen spielten.
Hiknaks Gesicht war so bleich, daß es wie Eis aussah. Sie griff nach Marrahs Handgelenk und vergrub ihre Nägel darin. »Sieh doch nur«, flüsterte sie. Einer der Männer in Weiß war Arang, unverkennbar – Arang, der Totgeglaubte, der lebendig und unversehrt neben Vlahan herritt, die Goldkrone des Großen Häuptlings auf dem Kopf und das pferdeköpfige Zepter in der Hand, als wäre er zum Feind übergelaufen. Niemand war in seiner Nähe – kein Krieger, der ihm einen Dolch an die Kehle hielt oder ihm einen Speer in den Rücken bohrte –, deshalb schien es, als käme er aus eigenem freien Willen. Doch sobald Marrah ihn erkannte, war ihr erster Gedanke: Er lebt! und ihr zweiter: ... wie eine Puppe!
Die Reiter ritten bis dicht an den Fuß der Klippen heran und zügelten ihre Pferde. Vlahan sprach als erster.
»Marrah, du widerwärtige Hexe«, rief er. »Bist du da?«
Sie trat ein Stück vor, damit er sie sehen konnte. »Was willst du? « entgegnete sie.
»Du bist eine Hure«, brüllte er. »Eine elende Hure und Schlampe, und statt dich zu heiraten, hätte ich dich strangulieren lassen sollen!« Er saß da und verfluchte sie, und jeder Fluch war obszöner als der vorige, doch Marrah sagte nichts, weil er Keru und Arang in seiner Gewalt hatte. Schließlich fielen ihm keine Verwünschungen mehr ein, und Changar übernahm das Wort.
»Arang, Enkelsohn von Zuhan und Großer Häuptling der Zwanzig Stämme, will mit dir sprechen«, brüllte Changar.
»Dann laß ihn beginnen.«
»Er möchte den Pfad hinaufsteigen.«
»Gut, soll er kommen!«
»Ich
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