Alteuropa-Trilogie 2 - Die Schmetterlingsgöttin
werde ihn begleiten«, rief Changar.
Das war natürlich etwas anderes. Marrah fiel nichts ein, was ihr lieber gewesen wäre, als Changar in Reichweite der sharanischen Pfeile zu haben. »Wie es dir beliebt! « rief sie.
»Dein Sohn ist auch dabei«, brüllte Changar. »Und ich warne dich. Wenn auch nur ein Pfeil in meine Richtung fliegt, werde ich den Jungen in den Abgrund werfen.« Es bestand kein Zweifel daran, daß er seine Drohung ernst meinte.
Marrah blickte auf Keru, und ihr war ganz elend vor ohnmächtigem Zorn. Ganz gleich, was Changar sagte, sie würde es sich anhören müssen. Jetzt wußte sie eindeutig, warum Arang zugestimmt hatte, die Gewänder und den Schmuck des Großen Häuptlings anzulegen.
Changar stieß einen Vogelruf aus, den Marrah als das Tschack der weißkehligen Grasmücke erkannte. Bei dem Klang rutschte Keru augenblicklich von seinem Pony und kam wie ein gehorsames Hündchen zu Changar gelaufen, leicht schwankend und stolpernd, als wäre ihm schwindlig oder als wäre er krank.
Bald wanderten sie alle den Pfad herauf. Changar kam als erster, huckepack auf dem Rücken eines seiner Gehilfen. Der alte Wahrsager ritt den Gehilfen wie ein Pferd, trat ihn in die Rippen und brüllte ihm Befehle zu, und jedesmal, wenn er zu Marrah hochschaute, verzog sich sein Mund zu einem wölfischen Lächeln. Arang schritt langsam hinter Changar drein, mit ausdrucksloser, nicht zu deutender Miene. Hinter Arang kam Keru, der ebenfalls von einem von Changars Gehilfen getragen wurde. Der kleine Junge lag völlig passiv in den Armen des Mannes, während er mit einem verschwommenen, trägen Ausdruck auf die Klippen starrte.
Mehrere bewaffnete Krieger folgten dem Mann, der Keru trug. Ganz am Ende des Trupps befand sich eine Frau, in eine lange, braune, formlose Tunika gekleidet. Ihr Kopf ohne Bedeckung und die grellbunten Tätowierungen in ihrem Gesicht ließen erkennen, daß sie eine Sklavin war. Als die Nomadenfrau näherkam, konnte Marrah sehen, daß sie die dunkle Haut und das schwarze Haar der Bewohner des Südens hatte.
»Sie ist keine Nomadin«, sagte Dalish.
Marrah stimmte ihr zu, und sie beobachteten schweigend, wie die Frau stumpfsinnig den Pfad bergauf trottete, ohne nach rechts oder links zu sehen. Es war keine Frage, warum Changar die Frau mitgebracht hatte. Wann immer die Hansi einen Dolmetscher brauchten, bedienten sie sich einer Sklavin oder Konkubine, die sie aus den Mutterländern geraubt hatten.
Als Changar zu der Lücke im Pfad kam, wies er seinen Gehilfen an, ihn auf den Boden zu setzen. Bequem mit dem Rücken an einen Felsblock gelehnt, starrte er zu Marrah hoch und gähnte. Es war kein natürliches Gähnen, sondern eine unmißverständliche Beleidigung; aber Changar ließ es echt aussehen, und einen Moment schien er unendlich gelangweilt, als ob Marrah und sämtliche Sharaner, die auf ihn herabschauten, ein Schwarm von Krähen wären, die dort oben auf dem Felsvorsprung hockten.
Er gähnte ein zweites Mal und befahl dann dem Mann, der Keru trug, an den Rand des Pfades zu treten und den kleinen Jungen über die Grube zu halten. Dann winkte er die Dolmetscherin herbei.
Marrah stand stocksteif da, wagte kaum zu atmen.
»Hast du den Besuch genossen, den wir euch letzte Nacht abgestattet haben?« fragte Changar im Plauderton. Die Frau übersetzte, damit jeder einzelne der Sharaner oben auf den Klippen die Worte verstehen konnte; ein Knirschen und Raunen ging durch die Menge, aber keiner wagte es aufzubegehren, weil alle gebannt auf Keru blickten.
»Ihr habt ein paar von unseren Männern getötet«, fuhr Changar fort, »aber sie sind tapfer gestorben wie echte Steppensöhne, und wir haben noch sehr viel mehr Krieger, die darauf brennen, euch zu vernichten.« Er zuckte die Achseln. »Ich glaube nicht, daß ihr da noch etwas ausrichten könnt. Vermutlich habt ihr kaum noch jemanden übrig, der weiß, wie man einen Bogen spannt.« Er gab eine Art Zeichen, und der Mann, der Keru hielt, packte den Jungen plötzlich an den Handgelenken und ließ ihn über der Tiefe baumeln. Im ersten Moment sah Keru überrascht aus, und dann, zu Marrahs Entsetzen, fing er an zu lachen. Der Gehilfe schwang ihn erneut hin und her.
Marrah biß die Zähne zusammen und zwang sich, nicht zu flehen und zu betteln, er möge ihren Sohn verschonen. Als Changar begriff, daß sie nicht sprechen würde, gab er es auf, den Gelangweilten zu spielen.
»Ergebt euch!« brüllte er. »Die Große Hure, die ihr anbetet, hat euch im
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