Alteuropa-Trilogie 2 - Die Schmetterlingsgöttin
Bauch fallen, kroch vorwärts und schlang ein Ende des Seils fest um einen Felsblock. Dann robbte er zurück, und zwei Männer zogen mit aller Kraft daran, um sich zu vergewissern, daß es auch hielt. Das Seil mußte erneut befestigt werden, aber schließlich saß es sicher an Ort und Stelle.
Dann hängten sich die Krieger ihre Bögen über den Rücken, schoben sich ihre Dolche zwischen die Zähne und überprüften die Köcher, die an ihren Gürteln hingen. Als alle bereit waren, gab der Anführer das Zeichen, und Chirkhan warf das freie Ende des Seils über den Rand des Grates. Hanf hätte sich in Dornen verfangen oder wäre in Baumzweigen hängengeblieben, aber wie Changar es vorausgesehen hatte, glitt das geflochtene Lederseil rasch und geschmeidig an der glatten Felswand hinab.
Unten auf dem Vorsprung stand Arang neben Dalishs Geliebter Jutima und blickte über das Tal. Die Lagerfeuer der Nomaden brannten noch immer, aber deswegen machten sie sich keine Sorgen. Vor einer Weile war ein kleiner Verband von Kriegern aus dem Lager geritten. Die Nomaden hatten eine Vorliebe für Überraschungsangriffe, doch obwohl diese in absoluter Stille auf die Klippen zugeritten kamen, hatten sie keinen Versuch unternommen, sich vor den sharanischen Wachtposten zu verstecken.
Arang war schon drauf und dran gewesen, Alarm auszulösen, als der gesamte Verband plötzlich abgeschwenkt und zurück in Richtung Fluß galoppiert war. Ein paar Augenblicke später hatten sie erneut einen Bogen geschlagen und waren auf den Strand zu geritten.
»Scheint mir eine merkwürdige Zeit, um den Pferden Bewegung zu verschaffen«, murmelte Arang. Jutima fand das ebenfalls sonderbar. Alle Wachtposten kamen zu dem Felsvorsprung und standen dort, während sie verwirrt beobachteten, wie die Nomaden hin- und herritten. Plötzlich versteifte sich Jutima und griff nach Arangs Arm.
»Hör doch! « flüsterte sie. Arang und die übrigen Wachen horchten angestrengt, aber es herrschte vollkommene Lautlosigkeit. » Genau das ist es.« Jutima hob ihren Bogen auf und griff nach einem Pfeil. »Die Grillen haben zu zirpen aufgehört!«
Sie hatte recht. Im Lager selbst waren die gewohnten Geräusche knisternder Feuer und unruhiger Schläfer zu vernehmen, aber der große monotone Chor der Grillen, der stets die ganze Nacht durch sang, war unerklärlicherweise verstummt. Es gab viele Gründe, warum Grillen plötzlich zu zirpen aufhörten: eine Eule, die über die Felder flog, oder ein Fuchs, der auf dem Felsvorsprung jagte. Selbst eine starke Windbö konnte sie eine Weile zum Schweigen bringen, und wenn die Nacht kühler wurde, schienen die Grillen schlafen zu gehen, genau wie Menschen; doch vom See her wehte eine sehr milde Brise, die Nacht war lau und balsamisch.
Arang gefiel die plötzliche Stille nicht, besonders nicht in Kombination mit dem närrischen Verhalten der Krieger dort unten. »Verteilt euch«, befahl er den Wachen. »Überprüft das gesamte Lager, und wenn ihr irgend etwas Verdächtiges seht oder hört, ruft eine Warnung.«
Seine erste Sorge galt dem Klippenpfad; aber als er sich über den Felsvorsprung beugte und den Pfad im matten Licht der Sterne sich an den dunklen Klumpen der Felsblöcke vorbeischlängeln sah, schien er völlig verlassen, obwohl man sich in der Dunkelheit nie ganz sicher sein konnte. Auf jeden Fall klaffte immer noch das Loch im Pfad. Jutima hatte sich bereits abgewandt und ging zum Tempel, spähte aufmerksam in die Dunkelheit und blieb gelegentlich reglos stehen wie ein Löwe, der sich an ein Reh anschleicht. Arang holte sie ein.
»Ich werde ein kleines Stück den Pfad hinuntergehen, um mich dort umzuschauen«, flüsterte er. Sie nickte und ging weiter. Arang zog sein Jagdmesser aus dem Gürtel, und er kam sich ein wenig lächerlich vor, als er abwärts kletterte, bis er die Lücke erreichte.
Am Rand setzte er sich eine Weile hin, ließ seine Beine baumeln und harchte angestrengt; doch er vernahm lediglich den Ruf einer Eule. Es war also eine Eule, die den Gesang der Grillen unterbrochen hatte. Erleichtert stand er auf und machte sich wieder auf den Rückweg.
Arang umrundete gerade die erste Biegung des Pfads, als er etwas sah, was ihn erschrocken nach Luft schnappen und starr stehenbleiben ließ. Eine dunkle Gestalt bewegte sich lautlos an der Flanke des Grates hinunter, schwang beim Herabgleiten leicht hin und her. Einen Moment glaubte Arang, einen Geist zu sehen, und dann begriff er.
»Nomaden!« schrie er.
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