Alteuropa-Trilogie 2 - Die Schmetterlingsgöttin
Krieger abgeschossen hatten, zogen die Nomaden das Seil hoch, und gleich darauf regnete erneut ein wütender Hagel von Pfeilen von dem Grat herab. Die Hansi hatten vorgehabt, die Sharaner im Schlaf zu überraschen; aber sie waren trotzdem mit genügend Pfeilen ausgerüstet, um sie in jedem
Fall empfindlich zu dezimieren und auf diese Weise zur Kapitulation zu zwingen.
Inzwischen hatten sie erkannt, daß Jutima die Anführerin war, und zu beiden Seiten von ihr wurden Leute getroffen; eine junge Frau bekam einen Pfeil ins Bein, ein Mann wurde in den Arm geschossen. Hinter ihr bohrten sich weitere Pfeile in die am nächsten stehenden Zelte, während die Kinder im Inneren vor Angst schrien. Hunde bellten aufgeregt, und Menschen rannten nach ihren Waffen, indessen prasselten ohne Pause die feindlichen Pfeile herab.
»Zurück! Geht in Deckung! « rief Jutima über den Lärm hinweg. »Es hat keinen Zweck, noch länger auf sie zu schießen. Sie sind zu hoch oben; wir können sie nicht treffen!« Inzwischen waren die Sharaner jedoch wie berauscht von Blutgier und ignorierten Jutimas Befehle. Seite an Seite standen sie am Rand des Vorsprungs und schossen unentwegt weiter, bis die feindlichen Pfeile drei von ihnen gleichzeitig trafen. Als dies geschah, kam der Rest endlich wieder zur Vernunft, schleifte die Verwundeten weg und flüchtete hastig außer Schußweite.
Wieder warfen die Nomaden das Seil über den Grat, und einer der Krieger machte sich an den Abstieg; abermals rannten Jutima und die anderen vorwärts durch jenen Hagel von tödlichen Pfeilen und schossen zurück – ein weiterer feindlicher Krieger verlor den Halt und stürzte in die Tiefe.
In jener Nacht kämpften Dalish und Hiknak Schulter an Schulter mit Yintesa, die weit über sechzig war, und einem tapferen Jungen namens Surmech, der knapp zwölf Jahre zählte. Marrah kämpfte ebenfalls, wenn auch auf eine andere Art. Sie hatte schon seit langer Zeit keine Übung mehr mit einem Bogen; statt also mühsam zu versuchen, irgend etwas zu treffen, rannte sie in die Schußlinie hinaus, um Pfeile aufzusammeln, da der sharanische Vorrat zur Neige ging. Die Pfeile der Hansi wiesen eine weitaus bessere Qualität auf mit ihren rasiermesserscharfen Feuersteinspitzen, und Marrah empfand eine trotzige Erregung, als sie um sie herum zischend zu Boden fielen.
»Gebt uns mehr!« schrie sie. Wie die Jäger und die Wachtposten, so war auch sie vartak, und solange sie kämpfte, fühlte sie sich unsterblich.
Während draußen die Schlacht tobte, lag Lalah schlafend im Tempel der Kinderträume und warf sich unruhig von einer Seite auf die andere. Am frühen Abend hatten die Priesterinnen ihr eine Tasse Tee – eine Mischung aus Katzenminze, Baldrian und Mohnsaft –zu trinken gegeben. Sie war in letzter Zeit besonders ruhelos und nervös gewesen und oft mitten in der Nacht aufgewacht, um nach lange verstorbenen Freunden zu rufen; die Priesterinnen waren besorgt, daß die beständige Müdigkeit und Erschöpfung ihren verwirrten Zustand noch verschlimmern könnte.
Als sie die ersten Alarmrufe vernahmen, waren die Priesterinnen hinausgelaufen, um zu sehen, was dort vor sich ging, überzeugt, daß Lalah nicht aufwachen würde. Sie hatten nicht damit gerechnet, lange fortzubleiben, aber dann waren sie mit der Versorgung der Verwundeten doch aufgehalten worden, und jetzt ließ die Wirkung des Tees allmählich nach.
Draußen wurde der Schlachtenlärm immer lauter. Plötzlich fuhr Lalah aus dem Schlaf hoch und setzte sich kerzengerade auf, um zu lauschen. Wenn die Priesterinnen sie in diesem Moment hätten sehen können, hätten sie ihr mehr Schlaftee verabreicht, denn in Lalahs Augen brannte ein wildes Feuer.
Zuerst schien sie lediglich verängstigt und orientierungslos zu sein. Dann begann sich langsam das unheilverkündende Glühen der Wahnvorstellung auf ihrem Gesicht auszubreiten. Ihre dunklen Augen glitzerten, und sie sah sich mit dem wachsamen, scharfen Blick einer Löwin im Raum um. In gewisser Weise war es der Blick der früheren Lalah und gleichzeitig der einer kranken Frau, die sich selbst wie eine Fremde vorkam.
Allzu plötzlich stand sie von ihrem Lager auf, und einen Moment drehte sich die Welt schwindelerregend um sie. Sie hielt sich halt-suchend an der Wand fest, zog ihre lange blaue Tunika von dem Stuhl neben der Schlafplattform, schob sich den Stoff in den Mund
und biß ein Loch in das abgetragene Leinen. Mit einer schnellen Bewegung riß sie einen breiten
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