Alteuropa-Trilogie 2 - Die Schmetterlingsgöttin
Göttin Erde, verfluche euch bis in alle Ewigkeit!« erscholl ihre Stimme. »Krieger, seht die Sonne ein letztes Mal! Bevor sie wieder aufgeht, werdet ihr alle sterben! « Nach dieser alarmierenden Voraussage öffnete Marrah ihre Hand und warf sechs kleine Tonkugeln auf das Kohlenbecken, das zu ihren Füßen versteckt war. Als die Priesterinnen von Nar ihr die Kugeln geschenkt hatten, nannten sie sie aus gutem Grund »getrockneten Donner«. Falls der Inhalt jener unscheinbaren kleinen Kugeln nicht in der Zwischenzeit verdorben war, stand den Nomaden ein endgültiger Schock bevor.
Flink trat Marrah zurück und wartete. Einen bangen, qualvollen Moment lang geschah gar nichts. Dann explodierte die erste Kugel mit einem ohrenbetäubenden Knall. Marrah widerstand dem Drang, unter ihre Maske zu greifen und sich die Finger in die Ohren zu stecken, und rührte sich nicht von der Stelle. Wieder ertönte ein Knall und dann noch einer, jeder so laut, daß es klang, als wäre ein Blitz in die Erde geschlagen. Obwohl Marrah gewußt hatte, was ihr bevorstand, raubte ihr die Gewalt der Explosionen förmlich den Atem.
Die Sharaner waren zwar unterrichtet worden, dennoch schnappten sie bei jeder gewaltigen Detonation erschrocken nach Luft und klammerten sich aneinander; und wenn die Kinder, die den Schlangenleib aufrecht hielten, nicht so tapfer gewesen wären, wären sie vor Schreck gestürzt.
Aber die Nomaden hatten keine Ahnung von dem, was hier vorging, und als die dritte Tonkugel explodierte, brach Panik unter ihnen aus. Zähneklappernd flehten Sie Changar an, sie zu retten, doch auch Changar mit seiner Weisheit war am Ende. Er hatte viele Dinge in seinem Leben gesehen, Schrecken und Zauberei; aber noch niemals hatte er einen Menschen erlebt, der Donner aus einem klaren, wolkenlosen Himmel herabbeschwören konnte.
»Was sollen wir nur tun?« wimmerte Vlahan.
Changar öffnete den Mund, aber es kam kein Laut heraus. Er zitterte und schwitzte am ganzen Leib, und jedesmal, wenn eine neue Explosion den Boden erschütterte, zuckte er bestürzt zusammen.
Als Vlahan Changars Furcht sah, geriet er in Panik. »Los, weg von hier! « brüllte er seinen Unterhäuptlingen zu, aber inzwischen scheuten bereits viele der Pferde vor Angst, und ein geordneter Rückzug war nicht mehr möglich. Die Krieger bemühten sich verzweifelt, ihre Tiere wieder unter Kontrolle zu bringen, die sich völlig durchgedreht aufbäumten und nach allen Seiten auskeilten.
Als ein Unterhäuptling von einem der weniger angesehenen Stämme von seinem Hengst abgeworfen wurde, machten seine Männer kehrt und flohen in Richtung Wald, während sie ununterbrochen schrien, daß der Fluch der Schlangen-Vogel-Göttin bereits über ihnen sei. Andere folgten bald, und als schließlich die sechste Tonkugel explodierte, bot sich den Sharanern der überaus erfreuliche Anblick, wie der gesamte Nomadentrupp Hals über Kopf und in blinder Raserei davonstob.
Die Siegesfeier von Marrahs Volk dauerte, bis der letzte Weinkrug geleert war. Zu guter Letzt wurden die Masken und Drachen und die Schlange sicher verstaut, und das Warten begann.
Den Rest des Nachmittags über beobachteten die Sharaner besorgt, wie in kurzen Abständen kleinere Ansammlungen berittener Krieger zum Nomadenlager zurückstrebten. Bis zum Einbruch der Dämmerung sah es ganz danach aus, als hätten sich alle Streitkräfte wieder versammelt. Lagerfeuer wurden wie gewöhnlich entzündet, und falls Krieger um jene Feuer herumsaßen, in höchster Angst vor dem Fluch der Göttin Erde, oder falls sich welche zusammentaten, um gegen Vlahan zu meutern, so konnte man davon leider nichts erkennen.
Waren die Sklavinnen gerade dabei, den Männern Fischsuppe zu servieren? Aßen die Männer die Suppe? Aßen auch die Frauen davon? Die Kinder? Der westliche Himmel verfärbte sich von Rot in ein stumpfes Grau, und die braunen Zelte der Nomaden verschmolzen mit dem schwärzlichen Braun der verbrannten Felder. Bald sichteten die Sharaner nur noch die Feuer in der Ferne, und nach einer Weile verschwanden auch sie. Dunkle Wolken trieben vom Süßwassersee herüber, und wenig später prasselte der Regen herab.
Gegen Mitternacht hatte sich der Baden unter Marrahs Zelt in einen flachen Teich verwandelt, und als sie neben den Wachen stand und zu der Spitze der schroffen Klippen hinaufblickte, konnte sie Dutzende von kleinen Wasserfällen sehen, die in Kaskaden vom Gipfel herunterschossen.
»Wenn sie uns wieder angreifen, dann
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