Alteuropa-Trilogie 2 - Die Schmetterlingsgöttin
warum die Shubhai all die Energie verschwenden, um etwas zu bauen, was sie nicht mitnehmen können, wenn sie im Sommer weiterziehen – und der einzig mögliche Schluß heißt, daß sie überhaupt nicht die Absicht haben, in die Steppe zurückzukehren.
Etwas hält sie hier fest, etwas, das viel wertvoller ist als die Ehefrauen und Sklavenmädchen und die Pferde und das Vieh, die sie zurückgelassen haben. Aber was könnte das sein? Ich habe keine Ahnung, aber ich vermute, sie befürchten, daß die anderen Stämme über sie herfallen, sobald sie von diesem Schatz erfahren – was das auch sein mag.«
Stavan saß einen Moment still da und starrte in die Flammen, als sähe er Shambah in Gedanken vor sich. »Es ist die Art der Shubhai, zu plündern und wieder zu verschwinden. Um ehrlich zu sein – die Hansi halten es nicht anders. Unsere Art zu kämpfen basiert auf der Idee, daß man ein Lager stürmt, ausraubt und dann so schnell wie möglich wieder davonstürmt, um sich in der Steppe zu verlieren. Wir sind immer ein Volk gewesen, das ständig weiterzieht, und unsere Stärke liegt in der Schnelligkeit unserer Pferde; aber dieses Holzhaus ist erbaut worden, um Männer zu Pferd auf eine Weise abzuwehren, wie sie noch nie zuvor abgewehrt wurden.
Wenn die Hansi angreifen, werden Nikhan und seine Krieger nicht hinausreiten und Mann gegen Mann kämpfen müssen. Sie können hinter ihrem Schutzwall kauern und aus der Sicherheit ihrer Gucklöcher heraus schießen – niemand wird in der Lage sein, an sie heranzukommen. Niemand wird sich an sie anschleichen, niemand sie in die Flucht schlagen können; und ein Dutzend – vielleicht sogar nur ein halbes Dutzend – Krieger könnten es schaffen, einen ganzen Schlachttrupp abzuwehren. Es ist eine aufregende Idee, wirklich. Ganz zu schweigen davon, daß die Sklaven keinerlei Chance hätten, falls sie eines Tages so unerschrocken sein sollten, gegen ihre Peiniger zu rebellieren. Nur einen einzigen Umstand hat Nikhan anscheinend vergessen.«
»Und was ist das?« fragte Arang.
Stavan hob den Kopf und lächelte. »Daß Holz brennt.« Kühne Worte – doch Stavan war auch ein praktischer Mann, und als er zu sprechen fortfuhr, wurde allen rasch klar, daß er nicht die Absicht hatte, mit zwei schwangeren Frauen, einer ehemaligen Konkubine und einem unerfahrenen Jungen einen Angriff gegen einen Trupp kampfgestählter Krieger zu führen. Nachdem sie weitere Einzelheiten erfahren hatten, einschließlich der Tatsache, daß mindestens zwanzig bewaffnete Männer in den Ruinen von Shambah kampierten, stimmten die anderen widerstrebend zu, daß es Selbstmord wäre, gegen die Festung der Shubhai anzustürmen und sie niederzubrennen.
Marrah sagte nur sehr wenig während dieser Diskussion. Sie war zutiefst bekümmert bei dem Gedanken, die shambahnischen Sklaven ihrem Schicksal zu überlassen. Außerdem ängstigte die Vorstellung sie, daß sich ein Kriegsverband von Nomaden auf Dauer an den Ufern des Süßwassersees niedergelassen hatte; aber sie sah auch keine Möglichkeit, sie wieder in die Steppe zurückzutreiben.
Mit Shambah als Hauptlager konnte dieser Nikhan seine Krieger bis weit nach Süden in das Herz der Mutterländer schicken. Shara lag auf der anderen Seite des Rauchflusses und würde wahrscheinlich noch lange Zeit sicher vor den Invasoren sein. Trotz alledem erfüllte sich Batals Prophezeiung Schritt für Schritt, und als Marrah nun am Feuer saß und zuhörte, wie Stavan seine Entdeckungen beschrieb, war ihr zumute, als spanne sich ein unsichtbares Netz des Schreckens über ihre Welt.
Bis der Himmel im Osten heller zu werden begann, hatten sie eine Entscheidung getroffen, die keinen so recht befriedigte, aber zuguterletzt die einzig vernünftige Lösung schien: Sie würden Shambah in einem großen Kreis umgehen. Als Marrah in den Wald zurüccritt, warf sie einen letzten Blick über ihre Schulter, aber es gab nichts zu sehen außer dem Süßwassersee, der matt im Licht des frühen Morgens glänzte wie ein Teller aus gehämmertem Kupfer.
Zahlen wir nicht einen zu hohen Preis für unsere Sicherheit?
schienen die Hufe ihrer Stute zu fragen, als sie über den weichen Blättermulch trabten.
Marrah dachte an ihr ungeborenes Kind und an die Zukunft, die sie ihm bot, indem sie davonlief. Wider alle Vernunft sehnte sie sich noch immer danach, umzukehren, nach Shambah zu reiten, das Shubhai-Fort niederzubrennen und sie ein für alle Male aus den Mutterländern zu vertreiben. Aber dann
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