Alteuropa-Trilogie 2 - Die Schmetterlingsgöttin
sich ihrer zu bemächtigen; daher betete sie so inständig, wie sie konnte, zu Chilana, daß er sie für zu wenig anziehend befände, sie in sein Bett zu nehmen. Sie sank in sich zusammen, verzog das Gesicht und bemühte sich, so auszusehen, als hätte sie Blähungen und wäre im Begriff, ihrem Darm Erleichterung zu verschaffen. Bitte mach mich häßlich, betete sie. Mach mich abstoßend. Wenn er auf die Idee käme, mich zu packen, würde er eine böse Überraschung erleben.
Sie blickte in Nikhans Augen und sah, daß er völlig betrunken war; aber wann hatte das einen Nomaden jemals daran gehindert, über eine Frau herzufallen? Sie waren nicht wie normale Männer, diese Wilden aus der Steppe. Es war nicht auszudenken, wie er reagieren würde, wenn er ihren Körper tatsächlich zu sehen bekäme. Er würde sie töten, ohne Zweifel, sie mit einem einzigen Dolchstoß ins Jenseits befördern – wenn sie Glück hatte. Aber sehr viel wahrscheinlicher würde er ihr etwas viel Schlimmeres antun, etwas Langsameres.
Nikhan erkannte die Angst der Shambahnin und grinste erfreut. Es war wirklich unter seiner Würde, sich darum zu scheren, was eine Sklavin dachte; aber er hatte sich selbst so viele Jahre seines Lebens klein und völlig verängstigt gefühlt ... deshalb war es immer wieder höchst erfreulich, sich daran zu weiden, daß jetzt er derjenige war, der Angst und Schrecken verbreitete.
»Verschwinde«, befahl er. Als ihr bewußt wurde, daß sie entlassen war, griff die Sängerin nach ihrer Harfe und rannte aus dem Raum, als wäre ihr ein ganzes Rudel Wölfe auf den Fersen. Nikhan schmunzelte belustigt. Manchmal bereitete es noch mehr Spaß, einer Frau Angst einzujagen, als sie sich gefügig zu machen. Einen Augenblick lang genoß er das Gefühl, dann strich er diese Unerfreulichkeit so vollkommen aus seinem Gedächtnis, daß sie sicher vor Erleichterung in Tränen ausgebrochen wäre, wenn sie es gewußt hätte.
Erneut gönnte er sich einen Schluck und streckte die Beine aus. Zwei Kelche später war sein Kopf schlaff nach vorn gesunken, und er durchlebte im Geist noch einmal seine Kindheit, während sein Mund halb offen stand und mit Wein vermischter Speichel auf seinen Lippen trocknete. In diesem Dämmerzustand zwischen Schlafen und Wachen beschwor das Rauschmittel längst vergessene Erinnerungen in langen, grellbunten Ketten herauf, die sich wie lose Zügel vor seinen Augen schlängelten. Er dachte an Rot und Gelb, dachte an den Geruch der Steppe, an die dampfenden Nüstern der Pferde in der eisigen Kälte.
Nach und nach verfestigten sich die Erinnerungen und nahmen deutliche Konturen an, und es bildeten sich scharfe Ränder, die wie Messerklingen in sein Hirn schnitten. Ohne es zu wollen, ertappte er sich plötzlich dabei, wie er an seinen Vater, Brakhan, dachte.
Der alte Mann hatte ebenfalls getrunken, und wenn ihn der Geist des Kersek packte, war er gemein und gewalttätig geworden. Nikhan erinnerte sich an derbe Prügel, erinnerte sich, wie sein Vater ins Zelt gestolpert war, nach saurer Milch und Erbrochenem stinkend; wie er blindwütig auf alles eingeschlagen hatte, was sich bewegte: Kinder, Frauen ... einmal hatte er sogar einen Hund mit Fußtritten getötet, nur weil das Tier aufgesprungen war, um ihn zu begrüßen.
Der Träumer schüttelte sich und bewegte sich ein wenig im Halbschlaf, die scharfen Klingen der Erinnerung wurden wieder stumpf. Etwas Kühles wehte durch den Raum – vielleicht hatte einer der Wachtposten den Ledervorhang an der Tür geöffnet, aber er verspürte keine Lust nachzusehen. Was auch immer die Ursache war, plötzlich stellte er fest, daß er mit absoluter Klarheit denken konnte, als hätte der Wein alles Überflüssige aus seinem Hirn gespült. Sein Vater hatte das Recht gehabt, seine Familie zu schlagen. Ehefrauen und Kinder waren das Eigentum des Mannes, genauso wie ihm seine Pferde und sein Vieh gehörten, und er konnte mit ihnen tun und lassen, was er wollte – auch töten, wenn ihm der Sinn danach stand.
Nikhan hatte dieses Recht niemals angezweifelt, und es verschaffte besonderes Behagen, daß jetzt
er
jeden schlagen konnte, den er schlagen wollte, egal ob Sklave oder Krieger. Nicht daß er das vorhatte. Natürlich nicht. Ein kluger Häuptling würde sich hüten, seine Untergebenen unnötig zu demütigen, doch das Entscheidende war: Wenn er wallte, könnte er jetzt aufstehen, zu den Wachen hinübergehen und ihnen die Zähne einschlagen, weil er die
Macht
dazu hatte.
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