Alteuropa-Trilogie 2 - Die Schmetterlingsgöttin
Gefühl, daß er etwas über diesen Sohn von Zuhan wußte, etwas, was die Lage vielleicht erklären konnte, aber er entsann sich nicht mehr, was das war. Dann fiel es ihm plötzlich wieder ein. Stavan! Natürlich! Dies hier war der Verrückte – der eine Sohn, von dem behauptet wurde, daß er bei den Pferden schlief, Stroh aß und wie ein kleines Kind mit Bällen aus Wolle spielte! Er war von den Göttern verflucht und praktisch hirnlos!
Nikhan machte sich vor Erleichterung fast in die Hosen. Er erhob sich auf die Füße und brachte ein unterwürfiges stummelzahniges Lächeln zustande. »Willkommen, Rahan«, sagte er. »Dein Besuch ist eine große Ehre für mein bescheidenes Lager. Ich bin den Hansi immer treu ergeben gewesen. Alles, was ich besitze, steht zu deiner Verfügung. Erlaube mir, dir Schutz zu gewähren und ...«, wieder lächelte er breit, »... und natürlich auch deinen Kriegern, wo immer sie sein mögen.«
In diesem Moment entpuppte sich Zuhans Sohn ohne jeden Zweifel als Dummkopf, denn er erwiderte beiläufig, so als wäre die Information völlig nebensächlich: »Ich habe keine Männer, die mit mir reiten, bis auf meinen Neffen. Er, die Frauen und ich sind allein nach Süden gekommen. Ich habe beschlossen, das Leben eines Kriegers aufzugeben und von jetzt an unter den Mutterleuten zu leben.«
Nikhan hörte seine Wachen überrascht nach Luft schnappen, doch er selbst achtete sorgsam darauf, seine Verbindlichkeit beizubehalten. Ihm war gerade der Gedanke gekommen, daß dies eine Falle sein konnte. Nicht einmal ein Verrückter würde einfach in ein Shubhai-Lager marschieren und das äußern, was dieser Mann gerade gesagt hatte. Vielleicht war Zuhan gar nicht tot.
»Und wer herrscht jetzt an deiner Stelle über die Zwanzig Stämme, Rahan?« Es war eine heikle Frage, doch Nikhan konnte der Versuchung nicht widerstehen, sie zu stellen, und zu seiner Verwunderung antwortete der Verrückte sogar.
»Vlahan, mein Bastardbruder, hat die Herrschaft an sich gerissen, möge die Göttin ihm verzeihen. Er hat Zuhan vergiftet und ...« Stavan, der Dummkopf, fuhr zu sprechen fort wie ein Mann, der eigenhändig die Spitze des Speeres schärfte, der ihn töten würde. Bis er seine Erklärung beendet hatte, war Nikhan so außer sich vor Freude über sein eigenes Glück, daß er Mühe hatte, eine ausdruckslose Miene zu bewahren.
Hier, direkt vor seiner Nase, stand ein Schatz, der mehr wert war als all der Plunder, den seine Männer jemals gestohlen hatten. Natürlich würde er umsichtig vorgehen und ein paar Kundschafter ausschicken müssen, um sich zu vergewissern, daß dies keine Falle war. Doch wenn seine Kundschafter bestätigten, daß keine Hansi-Krieger im Wald lauerten, würde er Stavan packen, ihm den Kopf abschlagen, ihn Vlahan schicken und die Belohnung einfordern.
Die Nacht nahm ihren Fortgang, und die Weinkrüge waren fast geleert. Die Wachen hatten hölzerne Spielbretter vor Nikhan und Stavan auf dem Boden ausgebreitet, auf denen sich runde kleine Steine türmten. Arang saß neben Stavan, die Augen halb geschlossen, während er der Sängerin zuhörte, die die alten Lieder von Shambah auf ihrer Harfe spielte. Marrah, Hiknak und Dalish saßen ein Stück entfernt im Schatten des Feuers. Niemand sprach mit ihnen oder nahm ihre Anwesenheit zur Kenntnis. Hunden wurde an einem Nomadenfeuer oft mehr Beachtung geschenkt als Frauen. Doch an diesem Abend war Marrah froh, unsichtbar zu sein. Sie lehnte ihren Kopf an Dalishs Schulter und nahm Hiknaks Hand in ihre; so warteten die drei Frauen geduldig ab.
»Du spielst gut, Rahan«, sagte Nikhan und lächelte Stavan zu.
Stavan betrachtete Nikhan ausdruckslos. Er griff nach den kleinen Spielknochen und würfelte erneut eine Kombination, die das Spiel zu seinen Gunsten entschied. Nikhan stieß einen leisen Seufzer der Verzweiflung aus, als Stavan ihm drei seiner Steine wegnahm. Danach spielten die beiden Männer schweigend weiter.
Gegen Mitternacht zog ein Shubhai-Krieger den Ledervorhang an der Tür beiseite und ließ einen Schwall kalter Luft in den Raum, als er eintrat. Der Krieger trug einen dunklen Umhang, sein Gesicht und seine Arme waren mit Schlamm bedeckt. Vier schwer bewaffnete Wachen begleiteten ihn in den Raum. Als Marrah die Wachen sah, wußte sie sofort, was als nächstes kommen würde.
Nikhan blickte von dem Spielbrett auf. »Sprich«, befahl er.
Der Kundschafter verbeugte sich und sagte: »Wir haben keine Spur eines Hansi-Kriegerverbandes
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