Alteuropa-Trilogie 2 - Die Schmetterlingsgöttin
Handgemenge auf sein Pferd zu springen und zu fliehen. Warum hatten ihn die Krieger nicht einfach mit ihren Speeren durchbohrt, als er sich auf sein Pferd zubewegt hatte?
Stavan blieb stehen, ging in die Hocke und legte seine Hand in die Spur von Arangs Pferd, maß die Tiefe des Hufabdruckes. Da Pferde mehr Gewicht auf ihre Vorderbeine legten, waren die vorderen Hufabdrücke gewöhnlich tiefer als die hinteren, aber diese waren vorn und hinten gleich tief, was auf eine Flucht in gestrecktem Galopp hindeutete. Er war sich fast sicher, daß Arang auf diesem Tier gesessen hatte.
Arang war geflohen, und sechs Krieger hatten ihn verfolgt, ohne auch nur einen einzigen Pfeil auf ihn abzuschießen. Merkwürdig! Sicher, es wäre schwierig gewesen, ihn zu treffen, da er ständig im Zickzack geritten war, wie die Spuren erkennen ließen, aber normalerweise ließen sich Krieger, die darauf aus waren, ihre Beute zu töten, davon nicht abhalten. Sie hätten einfach so lange geschossen, bis einer ihrer Pfeile ins Ziel getroffen hätte.
Aber sie hatten es nicht getan. Es lagen nirgendwo verschossene Pfeile auf dem Boden, nirgendwo waren tiefe Kerben in den Bäumen zu sehen. Nichts.
Stavan folgte den Hufabdrücken weiter in den Wald hinein, und er wurde immer verwirrter. Warum würden sechs bewaffnete Krieger – unter beträchtlicher Gefahr für sich selbst – einen unbewaffneten Mann verfolgen, ohne auf ihn zu schießen? Die einzig mögliche Antwort hieß, daß sie Arang lebendig fangen wollten – und nicht nur lebendig, sondern auch unverletzt. War Folter ihr Ziel gewesen? Wenn ja, dann hätten sie ihn mühelos mit ihren Keulen bewußtlos schlagen, ihn vom Pferd herunterzerren, ihn wie ein Paket verschnüren und zu ihrem Lager zurückbringen können, um ihn sich dort in aller Ruhe vorzunehmen.
Aber aus irgendeinem Grund hatten sie ihn in perfektem Zustand haben wollen, was zweierlei bedeuten konnte: Entweder hatten sie die Absicht, ihn Han zu opfern – was eher von der Hand zu weisen war, da kein einigermaßen vernünftiger Krieger monatelang durch fremde Länder reiten würde, nur um ein rituelles Opfer einzufangen –, oder jemand hatte die Krieger nach Shara geschickt, um Arang zu entführen ... jemand, der sie gewarnt hatte, daß sie mit ihrem Leben bezahlen würden, wenn sie Arang auch nur ein Haar auf dem Kopf krümmten ...
Plötzlich begriff Stavan: Vlahan hatte das Raubgesindel beauftragt. Bei Han! Natürlich steckte Vlahan dahinter! Aber warum? Vlahan liebte Rache, aber nicht genug, um Männer auf ein aussichtsloses Unterfangen zu verschwenden. Kein Nomadenkrieger war jemals weiter als bis Shambah nach Süden geritten. Was würde Vlahan veranlassen, einen Kriegertrupp in die Mutterländer zu schicken? Stavan fiel nur ein Grund dafür ein: Die Stämme der Steppe mußten rebelliert haben, und Vlahan mußte Arang dringend brauchen, um seine Macht zu legitimieren. Die Hansi hatten Vlahan nicht als Großen Häuptling akzeptiert, weil er ein Bastard war – also hatte er seinen Kriegern als zusätzliche Vorsichtsmaßnahme befohlen, Stavan zu töten.
Stavan blickte gen Himmel und wischte sich die Erde von den Händen. Nur die Tatsache, daß er noch immer in Gefahr war, hielt ihn davon ab, einen Jubelruf auszustaßen. Er hatte sich innerlich schon gegen den Anblick von Arangs Leiche gewappnet, in Stücke zerhackt und ohne Kopf; aber wenn er mit seinen Vermutungen über Vlahan recht hatte, dann mußte Arang noch am Leben sein.
Er begann zu laufen und folgte den Spuren, ohne weiter auf die Einzelheiten zu achten. Bald erreichte er eine kleine, schlammige Lichtung, und dort – wie erwartet – fand er Anzeichen dafür, daß die Krieger Arang von allen Seiten umzingelt, sein Pferd am Zügel gepackt und es zum Stehen gebracht hatten. Es gab noch andere Anhaltspunkte: Spuren eines Handgemenges, ein paar weiße Leinenfäden von Arangs Tunika, eine Lederschnur und einen Haufen frischen Dung, was hieß, daß die Pferde eine Weile gestanden hatten, bevor die Krieger weitergeritten waren.
Die Spuren, die von der Lichtung wegführten, bestätigten seine Theorie, daß Arang gefangengenommen worden war. Die Hufabdrücke waren jetzt nicht mehr tief. Nach dem Aufbruch hatten die Krieger ihre Pferde im Schritt gehen lassen und nicht im Galopp, um jemanden zu verfolgen. Das Pferd, das Arang bei seiner Flucht durch den Wald geritten hatte, war das dritte in der Kolonne und ging ziemlich dicht hinter dem Tier vor ihm, als würde es am
Weitere Kostenlose Bücher