Alteuropa-Trilogie 2 - Die Schmetterlingsgöttin
das schwarze Pferd rufen sollte, das kam, um die Tapferen ins Paradies zu tragen.
Dann wurde sein Kopf plötzlich klar, und die jüngsten Ereignisse standen deutlich vor ihm. Er und Arang hatten einen Baum gefällt und waren aus dem Hinterhalt überfallen worden. In dem Moment, als er sich wieder an das Geschehene erinnerte, wußte er, daß er nicht im Sterben lag; er stützte seine Handflächen flach auf den feuchten Boden und richtete sich mit einem solch heftigen Ruck auf, daß er die Feuersteinspitze des Speeres aus dem Erdboden zog. Der Speerschaft kippte seitwärts, schlug gegen den Stamm der gefällten Eiche, und Stavan setzte sich vorsichtig und stöhnend auf.
Als er die Wunde an seiner Seite inspizierte, erkannte er, daß er großes Glück gehabt hatte. Der Speer war durch seine Tunika gedrungen, zwischen seinen Rippen und seinem Arm hindurch, hatte ihn nur seitlich am Brustkorb gestreift und ihn durch den Stoff am Boden festgehalten, nicht mittels einer Wunde. Das Blut war das dunkle Blut oberflächlicher Schnitte, nicht das hellrote des Todes, und es war bereits geronnen.
Stavan packte den Speer, stieß ihn fest in den Boden und benutzte ihn, um sich mit seiner Hilfe auf die Füße zu ziehen. Die Krieger mußten ihn für tot gehalten haben, als sie davongeritten waren; aber bald würden sie zurückkehren, um sich seinen Kopf als Trophäe zu holen. Ich muß so schnell wie möglich von hier weg, dachte er, doch als er sich umblickte, waren beide Pferde verschwunden. Er versuchte, einen Schritt vorwärts zu machen, da wurde ihm plötzlich schwarz vor Augen, und eine derartige Übelkeit überwältigte ihn, daß er wieder gestürzt wäre, hätte er sich nicht an dem Speer festgehalten. Er blieb ganz ruhig stehen und wartete, bis sich die Übelkeit legte. Dann humpelte er langsam, Schritt für Schritt, in das Unterholz.
Sobald Stavan verschwunden war, begann der Wald um die gefällte Eiche herum wieder zum Leben zu erwachen. Nichts Menschliches war mehr zurückgeblieben, abgesehen von ein paar Fußabdrücken und mehreren Speeren, die wie die Borsten eines Igels aus dem Baumstamm ragten. Ein gefleckter Buntspecht mit leuchtend roten Kopffedern beäugte die Szene, entschied, daß es nichts mehr zu fürchten gab, und begann, auf einen dicken Ast einzuhämmern auf der Suche nach Larven. Zwei Heidelerchen riefen einander mit ihrem lauten »Tiii-luuu-iii« von gegenüberliegenden Seiten der Lichtung aus zu. Mehrere Fliegen brummten träge um blutbefleckte Eichenblätter, und eine kleine grüne Kröte stürzte mitten in der Bewegung ab und verschmolz mit den Blättern – als die beiden Nomadenkrieger auf die Lichtung marschierten, kreisten nur die Fliegen noch immer über dem Boden.
Der größere der beiden mit dem kahlrasierten Kopf und den Pferdetätowierungen auf der Brust war der Mann, der Stavan mit seinem Speer durchbohrt hatte. Der Krieger mit der fettigen Mähne blonder Haare war derjenige, der ihn mit seiner Keule niedergeschlagen hatte. Auf beiden Gesichtern zeigten sich blutige Kratzer, wo Baumäste sie gepeitscht hatten auf der Jagd nach Arang, und die Kriegsbemalung ihrer nackten Körper war von Schweiß verschmiert.
Einen Moment lang starrten sie auf die Stelle, wo Stavan gelegen hatte, dann runzelten sie die Stirn und blickten sich suchend im Wald um. Als sie sprachen, geschah es lautlos, nur durch Zeichensprache, während sich ihre Hände in dem schnellen Dialog von Hansi-Fährtensuchern bewegten.
»Weg.«
»Ja.«
»Er sah tot aus.«
»Ja.«
»Aber Tote können nicht laufen.«
»Vielleicht sind seine Leute gekommen und haben ihn geholt.« »Hoffen wir lieber, daß sie nicht nach ihm gesucht haben und daß er noch irgendwo in der Nähe ist.«
De; blonde Krieger kniete sich neben die blutbefleckten Eichenblätter, berührte das Blut mit einer Fingerspitze, um zu sehen, ob es frisch war; dann hob er den Finger an die Lippen und leckte prüfend daran. Während er seine Hand leicht über die Holzspäne gleiten ließ, versuchte er, winzige Temperaturabweichungen zu ertasten, die darauf hinweisen würden, ob hier noch kürzlich ein Körper gelegen hatte. Er zeichnete die Umrisse des Loches von der Speer-spitze nach, die Stavan durchbohrt und auf dem Boden festgenagelt hatte. Nun fuhr er mit der Fingerspitze um die anderen, runderen Löcher, die der Speer gebohrt hatte, als Stavan ihn als Stützstock benutzte. Die runden Löcher führten ins Gebüsch, begleitet von einem einzelnen Paar
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