Alteuropa-Trilogie 3 - Das Lied der Erde
jemanden, dessen Seele vor kurzem gefressen worden war.
»Sieht aus, als würde es ein heißer Tag werden«, bemerkte er, während er Windtänzer geschickt das Gebiß aus Knochen anlegte. Keshna grinste. »Je heißer, desto besser.«
Keru war verdutzt über diese Bemerkung, weil das Wild bei heißem Wetter immer im Schatten Schutz suchte, und die Jagdausbeute an kühlen Tagen viel besser war. Aber da Keshna immer seltsame Bemerkungen von sich gab, machte er sich nicht die Mühe, sie um eine Erklärung zu bitten.
Sie sattelte rasch ihre Stute, und sie ritten davon, bevor die Morgenwachen ihren Dienst antraten. Wie Keru vorausgesagt hatte, wurde die morgendliche Kühle bald van jener brütenden Sommerhitze verdrängt, die typisch war für das Delta. Als sie über die schilfbewachsene Ebene hinwegblickten, konnten sie die Hitze deutlich in Wellen aufsteigen sehen. Im Wald war es kühler, aber nur ein wenig. Die Blätter der Bäume hingen schlaff herab, und die Luft war zum Schneiden dick. Bald waren die Hälse ihrer Pferde feucht vor Schweiß. Sie ritten langsam, und obwohl sie auf eine ganze Reihe von Wildfährten trafen, sahen sie zwischen Morgen und Mittag nicht eine einzige Geweihsprosse.
»Ich weiß nicht, warum wir überhaupt unsere Bögen mitgenommen haben«, knurrte Keru. Aber Keshna, die sonst leicht schlechte Laune bekam, wenn es keine jagdbaren Tiere gab, war ausgesprochen vergnügt und erzählte alle möglichen ermutigenden Dinge über Rehe und Wildschweine und all die anderen Tiere, die sie zweifellos noch vor Einbruch der Dunkelheit aus dem Dickicht scheuchen würden.
»Die Hitze macht dir zu schaffen«, sagte sie, und zu seiner Überraschung schlug sie vor, eine kleine Rast einzulegen und im Schatten an einem kleinen Teich zu essen, wo sie ihre Stiefel ausziehen und ihre Füße im Wasser baumeln lassen konnten. Da Keshna sonst immer darauf bestand, so lange weiterzujagen, bis sie entweder etwas erlegt hatten oder vor Erschöpfung beinahe umfielen, fragte Keru sich, was in sie gefahren war; aber in Anbetracht der Tatsache, daß das Wild rar und die Hitze unerträglich war, hatte er keine Lust, mit ihr zu streiten.
Nachdem sie gegessen hatten, bot Keshna großzügig an, Wache zu halten, so daß er ein kleines Nickerchen machen könnte. Einen Moment lang war Keru mißtrauisch. Was heckte sie aus? Als er das letzte Mal versucht hatte, sich eine Weile aufs Ohr zu legen, hatte sie ihn unsanft in die Rippen geboxt und ihm vorgeworfen, er vertriebe mit seinem lauten Geschnarche das Wild. Ach, was soll's, dachte er gleich darauf, Frauen sind nun mal ziemlich launenhaft, und Keshna scheint heute ziemlich gut gelaunt zu sein. Als er sich auf dem Moos ausstreckte und die Augen schloß, wurde ihm bewußt, daß er Keshna eigentlich nie so richtig als Frau betrachtet hatte. Er hatte sie immer als einen Gefährten angesehen, ähnlich wie Tlanhan. Vielleicht stand er ihr ein wenig näher als Tlanhan, weil sie seine Blutsverwandte war und sie als Kinder zusammen aufgewachsen waren, aber er hatte nie darüber nachgedacht, sie könnte von weiblichen Gefühlen erfüllt sein. Er war sich auch nicht sicher, ob er das wollte. Frauen gab es genug in seiner Nähe, aber ein guter Jagdkumpan war schwer zu finden.
Keru schloß die Augen, schlief ein und träumte von einer ganzen Schar von Rehen, die um seine Pfeile flehten.
Einige Zeit später wurde er von Gesang geweckt. Es war ein süßer Gesang, lieblich und melodisch und so sanft wie die perlenden Töne einer Holzflöte. Einen Moment lang lag Keru mit geschlossenen Augen ruhig da. Während er zuhörte, wurde ihm bewußt, daß er das Lied kannte und daß der Text Sharanisch war:
Süße Lippen,
süße Zunge,
liebkost mich,
wie die Biene die Blume liebkost.
Laß deine Hände wandern,
laß deine Finger spielen,
der Wasserfall ergießt sich über die Felsen,
wie sich dein Haar über meinen Bauch ergießt.
Es war ein altes Lied, so alt, daß niemand mehr wußte, wann die Worte zum ersten Mal gesungen worden waren. Als Keru dem Lied lauschte, erinnerte er sich wieder an die weißen Häuser von Shara, an die Liebespaare, die engumschlungen im Dunkeln flüsterten, an den Duft von Jasmin und an das Rauschen der Brandung am Strand. Er war, als er in einem der weißen Mutterhäuser gelebt hatte, noch zu jung gewesen, um Liebeslieder zu singen, aber er hatte dieses hier sehr oft gehört. Seine Mutter und Stavan hatten es sich vorgesungen. Manchmal hatte er
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