Altherrensommer
geschätzt, mit denen man sich über technische Neuerungen und die Analyse von Störfällen unterhalten konnte. Wenn ihre schriftlichen Regelwerke und die gesetzlichen Bestimmungen der Aufsichtsbehörde nicht mehr dem Stand der einzelnen Komponenten entsprachen, dann waren wir es,
die das aktualisieren konnten. Als Scharnier zwischen Umweltministerium und Betreiber sozusagen. Das Vertrauen und die Kooperation von, ich schätze mal, tausend Kernkraft-Ingenieuren auf der ganzen Welt erwirbt man sich nicht durch beamtenhaftes Machtgetue, sondern durch Mitredenkönnen auf Augenhöhe. Von hochqualifizierten Spezialisten fachlich ernst genommen zu werden – das hat mich schon, sagen wir mal, gefreut.«
Ist Karl Zinn von Haus aus so bescheiden oder hat er es sich nur abgewöhnt, ehrpusselig zu sein? Achtstundentage gab es selten, 50% seiner Arbeitszeit im Jahr war er unterwegs – »bei Komponentenherstellern und Zulieferern, deren Produkte wir ja auch zu prüfen hatten« –, auf internationalen Fachkongressen rund um den Globus hielt er Vorträge. »Manchmal drei Sessions an einem Tag geleitet«. All diese Erfolgserlebnisse erwähnt er weder angeberisch noch in koketter Untertreibung. Nicht die Spur einer stammtischkrachenden »Was-hamwer-damals«-Erinnerung. Aber Verantwortung tragen bringt doch Aufwertung! Ich versuche abermals, ihn aus der Reserve zu locken. Einfluss haben und wichtig sein stärkt doch das Selbstwertgefühl, oder nicht? »Sicher«, nickt Karl und gießt uns Mineralwasser ein. »Aber im Grunde habe ich erst Monate nach meiner Pensionierung gespürt, wie viel Verantwortungsdruck damit von meinen Schultern genommen wurde. Während der knapp vierzig Jahre im Beruf war das keine Last für mich.« Ich schaue so ungläubig drein, dass er nachlegt: »Zum Beispiel in der Silvesternacht der Jahrtausendwende, am 31. Dezember 1999 um 23.59 Uhr – da stand ich im Kontrollraum von Neckarwestheim.« »Weil die Angst umging, die Computer könnten die Zahl 2000 falsch interpretieren?«
Viele Rechner konnten nur drei Digits bis 999 verarbeiten, den vierten aber nicht. »Ja. Es war selbstverständlich, vor Ort zu sein. Auch zu so einer unchristlichen Zeit.«
Ein bei Rentnern häufig beobachtetes Phänomen treffe ich hier nicht an. Je schmerzlicher der Abschied von Macht und Einfluss war, umso glorreicher idealisieren manche die zurückliegenden Berufsjahre. Karl tut das nicht. Und was ist mit dem umgekehrten Phänomen? Je schmerzlicher der Statusverlust war, umso heftiger wird beteuert, wie froh man sei, aus dem Laden endlich raus zu sein. Wie erleichtert man sei, dass die neuesten Entwicklungen einen nicht mehr betreffen und dass die jüngeren Nachfolger jetzt »die Lichter alleine ausknipsen müssen«.
Nein, kein Blick-zurück-im-Zorn. Der knochentrockene Ingenieur für elektronische Steuerungstechnik denkt offenbar genauso entspannt an seine Berufstätigkeit zurück, wie er gerade vor mir sitzt: Rotes T-Shirt, blaue Jogginghose, graue Pantoffeln. Eine »stattliche Erscheinung« stelle ich mir anders vor. Zwölf Ingenieure hatte er unter sich, einen Hauptabteilungsleiter und einen Geschäftsführer über sich. »Einmal bekam ich einen Anruf, ob der Chef zu sprechen sei. Der stand gerade in meinem Büro, schüttelte heftig den Kopf und winkte ab. Ich reichte ihm den Telefonhörer rüber und sagte: ›Dass Sie nicht da sind, sagen Sie dem Anrufer am besten selbst.‹« »Und seitdem gab es portionierte Rache?«, vermute ich, »Intrigen, Schikane, Mobbing?« »Überhaupt nicht. Wir sind immer noch freundschaftlich verbunden. Ich gehe zwei Mal im Jahr zum TÜV-Rentner-Treff und nehme auch noch gerne die Einladung zum Betriebsausflug an.«
Noch ein unauffälliger, aber bemerkenswerter Unterschied. In der einschlägigen Fachliteratur ist zu lesen, je höher die Position in der Firmenhierarchie war, umso seltener ließen sich die pensionierten Amtsträger auf Empfängen, Jubiläen, Betriebsausflügen und Weihnachtsfeiern ihrer alten Firma blicken. Im Adressverteiler bleiben und offiziell eingeladen werden? Ja, unbedingt. Hingehen? Eher selten. Man möchte in Erinnerung bleiben, sich aber nicht in Erinnerung rufen. Außerdem, so hatte ich vor meinem Besuch bei Karl von etlichen anderen Männern gehört, lebten die Gespräche bei solchen Wiedersehensfesten ja von gemeinsamen Erlebnissen, gemeinsam bekannten Auslöser-Stichworten und Namen. Dieses »teilbare Gemeinsame« wird aber kleiner, je länger die
Weitere Kostenlose Bücher