Altherrensommer
Berufstätigkeit zurück liegt und je weniger neue Mitarbeiter man kennt. Peu a peu schlafen die Kontakte zu befreundeten ehemaligen Kollegen ein. Ist also alles anders bei Karl, dem Kernkraftkontrolleur vom TÜV?
Ich unternehme eine dritte und letzte Probebohrung, ob in den Tiefenschichten seines Gemüts nicht doch ein wenig Wehmut oder gar Bitterkeit zu finden sind: »Dreieinhalb Jahrzehnte Berufsleben für die Atomkraft und am Ende Fukushima! Den endgültigen Ausstieg der Bundesregierung aus der Laufzeitverlängerung nannte die FAZ ›Das Ende des dreißigjährigen Krieges‹. Und der japanische Ministerpräsident sagte beim Gedenktag zum Atombombenabwurf auf Hiroshima am 6. August, man könne wohl doch nicht zwischen friedlicher und tödlicher Nutzung der Kernenergie unterscheiden. Wie geht es Dir, wenn Du das liest?« Karl Zinn schweigt und überlegt. Sein Blick geht zur Wand über dem Esstisch, wo mir
erst jetzt eine Unmenge von Kinder- und Familienbildern auffallen. Jungen, Mädchen, Männer, Frauen. Jedes Alter. Sommer, Winter, Urlaub, Schule – viele Einzelporträts hängen da, Bilder von Paaren, Gruppenfotos. »Na ja«, holt Karl tief Luft, »Kernkraftwerke waren und sind so sicher, wie etwas von Menschen Gemachtes sicher sein kann. Sie werden härter und häufiger gecheckt als jeder Jumbo-Jet. Gegen Materialermüdung oder einen Trafo in Brunsbüttel, der brennt, weil er mit Öl betrieben wird, kann man was machen. Gegen die Fehlerhaftigkeit von Menschen nicht. Und gegen Naturkatastrophen letztlich auch nichts. Was mich manchmal gekränkt hat, ist, dass in der Öffentlichkeit niemand würdigt, was wir geleistet haben.« Er überlegt wieder einen Moment lang. »Aber das ist doch berufstypisch«, will ich ihn etwas holprig trösten, »Bodyguards werden ja auch nicht mit der Zeitungsschlagzeile geehrt ›Heute wieder kein Attentat auf die Kanzlerin‹.« »Das stimmt. Unser Job war, dass nichts passierte und es keinen Anlass für Alarm gab. Aber wenn auf der rechten Rheinseite der Salat untergepflügt werden muss, weil er strahlenbelastet sein könnte, und dann der Salat von der linken Rheinseite verkauft wird, aus Frankreich, 700 Meter weiter – das ist schon absurd.«
Absurd, sagt Karl. Nicht zynisch. Ich staune. Wie viel Verachtung für »die Medien« hätte sich bei ihm aufstauen können im Laufe der Jahrzehnte. Wenn Atomkraftwerke als störanfällig gebrandmarkt wurden, sobald die Schranke im Parkhaus klemmte. Wie viel Bitterkeit gegen »die Politiker« müsste er hegen, wenn jeder Wahlkampf in irgendeinem Bundesland für neue Kehrtwenden in der Gesetzgebung sorgte. So viele Uneindeutigkeiten auf Ministeriumsseite,
so viele Durchstechereien bei den Betreibergesellschaften hat es gegeben – Karl Zinn sitzt da und ist das Gegenteil eines Märtyrers. Kein Opfer-Pathos, kein Schaum vor dem Mund, kein Wehgeschrei eines ewig Missverstandenen. Stromerzeugung durch Kernspaltung wird es in Deutschland bald nicht mehr geben, basta. Und Karl sagt: »Hoffentlich reichen die erneuerbaren Energiequellen.« Ja, sage ich, muss man mal sehen. Dabei ist er alles andere als ein Phlegmatiker. Lang ist die Liste der Dinge, Zustände und Personen, die ihn ärgern. Manches davon schwitzt er sich weg: An drei Tagen der Woche geht Karl je zweieinhalb Stunden lang ins Fitness-Studio. Aber: Es herrscht Ruhe im Karton, wenn er an seinen Beruf denkt.
Es gibt ein etwas pastoral klingendes Wort für Karls Zustand: Gehaltensein. Einer der Gründe für dieses im-seelischen-Gleichgewicht-Gehaltensein wird mir klar, als Karl die Fotogalerie an der Wand erläutert. »Das ist unsere Älteste, verheiratet mit einem Architekten, drei Kinder. Dann die zweite, verheiratet mit einem Pastor, zwei Kinder. Die dritte ist mit einem Verwaltungsfachmann verheiratet und hat ein Kind. Und unsere Jüngste mit einem Volkswirt, die haben auch ein Kind.« »Vier Töchter, vier Schwiegersöhne, sieben Enkel machen zusammen mit Dir und Deiner Frau 17 Geburtstage pro Jahr«, staune ich. »Mehr«, sagt Karl, »wir haben schließlich noch Geschwister und ein gutes Verhältnis zu den Eltern unserer Schwiegersöhne. Rechne mal mit rund 25 potentiellen Anlässen für Familienfeiern. Jährlich.« Er lächelt die Bilder an, schaut zu mir herüber. Jetzt erkenne ich jene Spur von Stolz, die ich bei der Aufzählung seiner Berufserfolge vermisst habe. Manch anderer Mann würde beim Gedanken an mehr als zwei
Dutzend Geburtstagsfeiern jährlich in Schockstarre
Weitere Kostenlose Bücher