Altherrensommer
und erotischer Anziehungskraft gearbeitet werden. So, als sei der Kampf gegen Routine und Lustlosigkeit mit teuren Dessous und heißen Accessoires, süßen kleinen Fetischen und seltsamen Rollenspielen zu gewinnen. Wenn zwei Menschen damit ihren Spaß am Sex über die Jahre retten – bitte sehr, nichts dagegen. Mich wundert nur, warum eine simple Erkenntnis nicht ähnlich populär ist: Erotik – das ist die Freude am geheimnisvoll Gegensätzlichen. Freundschaft – das ist die Freude am vertrauten Ähnlichen.
Dass in einer Partnerschaft Erotik und sexuelles Begehren abnehmen, während Freundschaft und platonische Liebe zunehmen, mag man befürchten, muss es aber nicht. Wie wäre es, diese Entwicklung mal nicht als »Brüderchen und Schwesterchen-Ehe« zu verspotten, sondern den versteckten Charme, die offenkundigen Vorteile, die still glühende Wärme einer solchen Beziehung zu würdigen? Dass die erotische Anziehung abnimmt, weil die vertraute Freundschaft zunimmt, mag eine Herausforderung, eine Aufgabe für Mann und Frau sein. Aber ist es ein durchweg bejammernswerter Verlust? In millionenfachen Varianten erlebt und erzählt wird die wunderbare Verwandlung in jungen Jahren, wie »aus Freundschaft Liebe wurde«. Wie zwischen
einander lange vertrauten Freunden auf einmal erotische Funken sprühten und Herzen entflammten. Den Rocksänger Klaus Lage machte es berühmt, davon zu singen, wie er sich plötzlich in eine langjährige Spielkameradin aus Kindertagen verliebte. »Tausendmal berührt, tausendmal ist nix passiert, tausendundeine Nacht – und es hat Zzoom gemacht«. Den umgekehrten Fall , wie in späteren Lebensjahren »aus Liebe Freundschaft wurde« – den erzählen nur wenige, den besingt kaum jemand. Dass eine solche Verwandlung auch »wunderbar« sein kann, behandeln einige emotional ergreifende Kinofilme deshalb, weil einer der beiden Liebenden schwer erkrankt oder durch einen Unfall verunstaltet ist. Sie erzählen aber nicht davon, wie es im Lauf der (Ehe-)Jahre vom heißen Begehrtwerden zum vertrauten Befreundetsein kommt. Zugegeben, das ist cineastisch schwer darstellbar. Im wirklichen Leben aber vermutlich häufiger anzutreffen, als es Studien und Statistiken je abbilden könnten.
Manche Wissenschaftler wollen beobachtet haben, dass eine gewisse Geringschätzung der genitalen Sexualität gegenüber breit gefächerten, anderen »Lüsten« zunimmt und die Zahl asexueller Partnerschaften und Ehen steigt. Infolge des medialen Overkills an Sex, infolge jahrzehntelanger Enttabuisierungen auf allen Kanälen sei der Sex schal und banal geworden, seien Geheimnis und Eroberung unmöglich, der »Kick« irgendwie raus und »Sexualität heute nicht mehr die große Metapher des Rausches und des Glücks«. 52 Aber wo bleibt dann das sexuelle Verlangen? Was tun, »wenn’s unterm Gürtel brennt«, um abermals Klaus Lage zu zitieren? – Wenn die rund 17 Millionen Singles, die wir derzeit in Deutschland zählen, sich
nicht unverzüglich gegenseitig heiraten, werden in absehbarer Zeit so viele Alte allein leben wie noch nie. Bleibt denen zur Triebabfuhr nur Masturbation und Prostitution?
Giselher Sturm, wie ich den einstigen Bordell-Besitzer nennen will, ist Schweizer und nicht leicht zu kontaktieren. Er lebt zurückgezogen an einem der schönsten Fleckchen Europas, will mir aber gerne auf halber Strecke entgegen kommen: in ein nobles Hotelrestaurant am Bodenseeufer. So nobel, dass eine Limousine vor mir einfach am Haupteingang anhält. Die Fahrerin steigt aus, gibt dem Hotelpagen ihren Autoschlüssel und stöckelt hinein. Ob das auch mit meiner staubigen Familienkutsche funktioniert, mag ich erst gar nicht testen. Ich gurke weiter durch die Altstadtgassen auf der Suche nach einem Parkplatz.
Herr Sturm ist großgewachsen, schlank, hat schütteres rotblondes Haar, einen fein ziselierten goldenen Ring am Finger, trägt ein schwarzes Poloshirt unter dem Jackett und einen hauchdünnen Schal ums Revers. Dass er demnächst 80 wird, sieht man ihm nicht an. »Meinen letzten Betrieb hab’ ich 2006 zugemacht. Als der Vermieter merkte, wie gut es lief, wollte er so viel abhaben, dass ich sagte: Schluss, hier sind die Mädchen, hier sind die Schlüssel, mach’s doch selber. Ich setz’ mich zur Ruhe.« Mit »Betrieb« sind ganz unterschiedliche Einrichtungen des Rotlichtmilieus gemeint, lerne ich im Laufe des Abends: Ein 30 Jahre lang gutgehendes »Abstauberlokal« auf dem Lande z.B. ohne Zimmer und Huren, aber mit
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