Altoetting
Irgendwo war das auch verständlich. Denn jetzt, unmittelbar vor den alle zehn Jahre stattfindenden Oberammergauer Passionsspielen, gab es einen klaren Vorteil für Oberammergau. Die waren logischerweise mit ihren Passionsspielen vollauf zufrieden. Und wenn nicht, dann hätten die lieber alle fünf Jahre die Festspiele abgehalten, als mit Altötting überhaupt was zu tun zu haben. Außerdem war Oberammergau ja ein ganz anderes Kaliber. Schon seit dem 17. Jahrhundert, und zwar seit 1634 genau, gab es da Passionsspiele. Also konnten die auf eine jahrhundertelange Tradition zurückgreifen.
Der mächtige FC Bayern – Fußball jetzt als Vergleich – kooperiert ja auch nicht mit den Unterhachinger Kickern. Obwohl das Beispiel natürlich hinkt, wie Richard III ., aber egal.
»Lachhaft!«, hat der Oberammergauer Bürgermeister dann auch gesagt und jeglichen Verhandlungen seine Absage erteilt.
Aber wie so oft im Leben, so hieß es auch in Altötting: Jedem das Seine und jetzt erst recht. Wenn nicht mit, dann eben ohne Oberammergau, und was die können, können wir schon lange. Oder korrekt ausgedrückt, was die schon lange können, können wir auch.
Anschließend wurde dann die Maschinerie in Gang gesetzt. Der Passionsspielverein wurde gegründet, Gelder wurden lockergemacht, Darsteller rekrutiert und schließlich wurde mit einer Euphorie angefangen zu proben, die alle Verantwortlichen staunen ließ.
Das ging gut bis zum Todesfall des ersten Judas’. Von da an ging es dann nur noch schleppend weiter. Es herrschten schwerwiegende Motivationsprobleme und es hagelte Gerüchte und Spekulationen. Nach dem Tod des zweiten Judas’ schaltete sich sogar die Kriminalpolizei aus Mühldorf ein. Allerdings ergebnislos. Es war ein Unfall, vermutlich ohne Fremdeinwirkung, lautete die Diagnose. Das mussten die Altöttinger akzeptieren, obwohl für viele klar war, dass das irgendwie doch alles seltsam ist. Als dann auch noch der dritte Judas plötzlich verschwunden war, glaubte erstens kaum mehr einer an einen Zufall und zweitens ebenso viele an das endgültige Scheitern der Passionsspiele. Warum? Na ja, ist doch klar. Bei zwei Toten und einem spurlos verschwundenen Judas ließe sich sicher keiner mehr finden, der die Rolle des Judas übernehmen wollte. Außer vielleicht ein Lebensmüder. Aber die waren in Altötting schwer zu finden. Einen Schauspieler von außerhalb zu engagieren war wegen der Auflage auch nicht möglich. Also wurden Überlegungen angestellt, Krisensitzungen abgehalten und diskutiert – nächtelang. Es wurde erwogen, die Auflage aufzuheben und einen Professionellen zu engagieren. Arbeitslose Schauspieler gibt’s ja genug.
Hin und her ging das: Ja, nein, ja, nein . . .
»Mach’s doch du!«, sagte die Zeller Froni schließlich und meinte Arno. Aber der hat nur abgewunken und angedeutet, schon noch eine Lösung zu finden.
Ein Fluch liegt auf dem Judas, haben einige gemutmaßt. Es wurden Überlegungen laut, ob man die Textpassagen »Ich will ihn verraten. 30 Silberlinge. Abgemacht!« und »Ich habe übel getan, dass ich unschuldig Blut verraten!« nicht über Tonband einspielen könnte.
Die Passionsspiele sollten also ohne Judas und nur mit Text vom Band ablaufen – im Prinzip undenkbar. Manche, vor allem aus dem Kloster, also der Guardian Martin, seine Patres und die Bruderschaft schlugen vor, die toten Judasse als Zeichen zu verstehen und somit die ersten Passionsfestspiele Altöttings überhaupt nicht stattfinden zu lassen. Erstaunlicherweise hat Pater Manuel und gleichzeitig auch Assistent vom Niederbühler dem Guardian hinter vorgehaltener Hand widersprochen. Er sprach von »weltlichen Problemen« und »Gott oder Übersinnliches, also Flüche etc. sind sehr wahrscheinlich in diesem Falle auszuschließen«.
Der Guardian Martin dagegen verkündete: »Es scheint, der Herr will nicht!«
Woraufhin der Erste Bürgermeister Brunner ausgeflippt war und geschrien hat: »Scheißegal, was der Herr will, wir können nicht mehr anders.«
Damit hat er natürlich Recht gehabt. Ja, die Eintrittskarten waren fast alle verkauft, und schlimmer noch, die Einnahmen zum großen Teil schon ausgegeben. Sie waren bereits wieder in die Passionsspiele investiert. Es blieb also nichts anderes mehr übrig als das Gegenteil von einstellen, nämlich weitermachen. Und da Arno ein Geschäftsmann durch und durch war, wurde er beauftragt, mit seinen Connections und allen Vollmachten das Problem zu lösen. Nach zwei Tagen und
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