Altoetting
langen Haaren, seinen verlotterten Klamotten und dem unappetitlichen Aussehen. Selbstverständlich gab es auch in Altötting Randfiguren, zumindest bis vor Kurzem noch. Und also auch Projektionsflächen, psychologisch betrachtet. Das waren auch hier die Penner, die Obdachlosen. Möglich, dass da ebenfalls Linguistikprofessoren darunter waren. Möglich. Auf jeden Fall tauchten die Gestrandeten ständig am Kapellplatz oder vor der St.-Magdalena-Kirche auf. Hin und wieder auch an der St.-Anna-Basilika. Mit zunehmender Zeit immer mehr. Scheinbar musste es sich herumgesprochen haben, dass in Altötting bei den aus aller Welt angereisten Gläubigen die Mark lockerer sitzt als anderswo. Es gab eine zunehmende Pennerschwemme, einen Obdachlosen-Tourismus. Vor allem aus Passau und München wurden die Wohnsitzlosen angespült. Immer in erbärmlichem Zustand und mit aufgehaltener Hand tauchten sie in Altötting auf, um die Wallfahrtstouristen mit ihrem schlechten Gewissen zu belästigen. Hier hieß es aber nicht wie anderswo üblich »Haste mal ne Mark?«, sondern vielmehr: »Eine milde Gabe!« Der Guardian Pater Martin, nebenbei auch noch zuständig für die Organisation des Pilgerwesens, sah das gar nicht so gern, weil das natürlich ein schlechtes Licht nicht nur auf Altötting, sondern insbesondere auch auf die Kirche warf. Wie schnell heißt es da: Schaut euch das an, da drin, also in der Basilika, wird für die Biafrakinder im Busch gesammelt und draußen herrscht eine massenhafte soziale Verelendung der eigenen Bevölkerung. Natürlich ist das jetzt übertrieben, aber oft werden eben winzige Ausschnitte gleich für die ganze Wirklichkeit gehalten. Quasi aus einem Obdachlosen mit aufgehaltener Hand werden mir nichts, dir nichts die kompletten Altöttinger zu Schnorrern. Aber wer glaubt, dass deshalb die Mark in Gottes Namen vielleicht von Pater Martin höchst selbst als Almosen gekommen wäre, unterliegt einem Irrtum. Im Gegenteil. Von da kam was ganz anderes. Eine ganz besondere Art der bayrischen Konfliktbewältigung in Form einer Tracht Prügel ist auf die Obdachlosen niedergegangen. Nein, nicht von Pater Martin selbst, sondern professionell organisiert. Auch ein Kloster ist heutzutage ein mittelständisches Unternehmen mit einer reichhaltigen Angebotspalette an portioniertem Glauben, über Rosenkränze zu Ansichtskarten und Plastiktrinkflaschen mit Marienmotiv. Wo also Marketing und Vermarktungsstrategien unumgänglich sind, dürfen natürlich Öffentlichkeitsarbeit und Promotion nicht fehlen. Was Radio Vatikan für den Papst ist, sind der Liebfrauen-Bote und die Selbstdarstellungsschriften fürs Klosterstift. Nicht zu vergessen, als letztes Problembewältungsinstrumentarium, die Wach-und-Schließ. Die wurde dann schließlich auch mit der Lösung des Obdachlosenproblems beauftragt. Die Obdachlosen wurden also eines Morgens wie eine Schafherde auf dem Aldi-Parkplatz zusammengetrieben und dann in Busse verfrachtet und nach Passau oder nach München zurückgefahren. Bis auf zwei, drei gepflegte Alibi-Penner mit festen Arbeitszeiten und klösterlicher Unterkunft gibt es seither keine Obdachlosen mehr vor der Basilika, nicht auf dem Kapellplatz und auch an der Magdalenen-Kirche ist nichts zu sehen.
Also, ein eigenartiger Anblick war Plotek schon unter den Laiendarstellern, da im Großen Sitzungssaal. Obwohl, auf den zweiten Blick war es nicht so sehr das Äußere, was die Laienspieler am meisten irritierte. Vielmehr Ploteks Verhalten. Wie ein Fels in der Brandung ist Plotek inmitten der aufgeregt herumwuselnden Altöttinger Passionsspielgemeinde gestanden und hat Löcher in die Luft gestarrt, mit einem Blick wie der brennende Dornbusch. Plotek ist dagestanden, hat geschaut und geschwiegen und mit seinem gnadenlosen Schweigen Wortkaskaden provoziert. Ein Blick von ihm und schon sind die Worte aus dem Gegenüber gepurzelt wie Purzelbäume beim Kindersport. Manche haben gedacht, sofern sie vor lauter reden überhaupt noch denken konnten, Plotek ist ein Hundertprozentiger, wie er so dastand, ohne viele Worte, einfach so. Hundert Prozent und autenthisch. Sie dachten, einmal Judas, immer Judas. Andere wiederum sind davon ausgegangen, dass es für einen wie Plotek, frei nach Sepp Herberger, vor der Bühne wie auf der Bühne ist, quasi Professionalität bis ins Private hinein. Soll heißen, der Darsteller isst, ja, isst von essen, beispielsweise auch privat das, was er auf der Bühne verspeist. Nicht nur im übertragenen, sondern
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