Altoetting
Zeller doch zwei Töchter hat. Aber als der Manuel mal nebenbei gesagt hat, es ist auch bei den Zellers nicht alles so, wie es scheint, bin ich natürlich ins Nachdenken gekommen.«
Plotek dagegen hat überhaupt nicht nachgedacht. Für ihn war das ganze Altöttinger Passionsgestrüpp völlig undurchschaubar. Mit dem gesunden Menschenverstand war dem nicht beizukommen. Wenn, dann nur mit Intuition. Und viel Gefühl. Aber wer hat das schon? Und wenn, wer weiß es?
»Wie funktioniert eigentlich die Computertomographie genau, Frau Merz?«, hat Plotek ins Blaue hinein gefragt. Die Merz Monika verstand Ploteks Frage genauso wenig, wie Plotek die Merz Monika.
»Keine Ahnung!«, sagte sie. Und dann ziemlich verlegen: »Ist das wichtig?«
»Für mich schon.«
6
Zum ersten Mal spielte Plotek den Jesus. Ein seltsames Gefühl war das schon für ihn. Plotek hatte schon viel gespielt. Den Richard, den Hamlet, den ganzen Shakespeare rauf und runter, auch Büchner, Goethe, Schiller, Brecht. Aber Jesus noch nie. Einmal hatte er den Josef dargestellt, den Mann von der Jungfrau Maria, bei den Krippenspielen im Kindergarten von Lauterbach. Aber das war noch in der Kindheit gewesen und keine gute Erinnerung. Wie fast alles aus der Kindheit, sofern er sich überhaupt noch an früher erinnerte, weil er fast alles, bewusst oder unbewusst, verdrängt hatte. Psychologie jetzt wieder. Aber egal. Plotek spielte also in Kostüm und Maske den Jesus, auf der Bühne vor der Basilika. Es war die erste Probe mit allen Beteiligten und noch mit dem Textbuch in der Hand und der Souffleuse dicht auf den Fersen, weil der Text natürlich erst rudimentär im Kopf war. Und dennoch sind die Jünger in ein einziges Staunen verfallen, und der Spielleiter Niederbühler ist aus dem Klatschen gar nicht mehr herausgekommen. Und auch der Assistent Pater Manuel, die Maria Magdalena und alle anderen waren tief beeindruckt von Ploteks schauspielerischem Können. Obwohl das meiste noch improvisiert war. Er spielte einfach aus der Situation heraus, agierte irgendwie drauflos – Plotek war ja auch ein erfahrener Mime. Auf fünfzehn Jahre Theater konnte er zurückblicken. Auch singen war kein Problem für ihn, tanzen auch nicht. Bei der Laienspiel-Messlatte musste Plotek allerdings nicht mal hüpfen. Der kleinste Schritt von Plotek war der größte für das Altöttinger Passionsspiel. Und dann waren da auch noch die Emotionen, also nicht nur den Text aufsagen, auftreten und abgehen, nein, das war gespielte Identifikation, was Plotek da hinlegte, fast wie in echt. Das war ergreifend für die Mitspieler, die Nackenhärchen sind aufrecht gestanden, eine Gänsehaut hat den Körper rauf und runter geprickelt und alles. So etwas kannten die nur aus dem Fernsehen. Beim Tatort zum Beispiel, wo man danach vorsichtshalber den Haustürschlüssel zweimal rumdreht. Die Laienspieler sind aus dem Staunen nicht mehr herausgekommen. Dabei staunten sie weniger in ihren Rollen als vielmehr privat. Es war ein privates Staunen im Kostüm. Ganz anders dagegen die Jungfrau Maria, also die Zeller Froni. Die hat auch gestaunt, aber ganz in der Rolle. Ja, die Zeller Froni himmelte Plotek an und hatte einen Blick im Gesicht, als hätte sie Glühbirnen in den Augen. Geradezu geleuchtet hat die Jungfrau Maria und den Jesus angestrahlt, dass der ganz verlegen wurde. Komisch, hat Plotek kurz vor dem Abendmahl gedacht, das hätte ich der Froni jetzt nicht zugetraut, weil das Passionsspiel für die doch eher ein Mittel zum Zweck ist oder vielmehr ein Zwang, also ein väterliches Muss. In diesem Zusammenhang war die Leistung von Froni noch viel erstaunlicher. Froni war also als Maria, wie Plotek als Jesus, ebenfalls hundertprozentig. Jede Geste, jeder Blick war vollkommen authentisch. Entweder war sie eine geniale Schauspielerin oder aber ein Naturtalent. Vielleicht ist sie aber auch ganz privat, als Zeller Froni, ganz nah an der Maria dran, dachte Plotek und ist beinahe gestrauchelt. Nein, nicht wegen dem Gedanken, sondern wegen der plötzlichen Konzentrationsschwäche. Plötzlich verlor Plotek seine Figur. Er war nicht mehr Jesus, sondern nur noch Plotek. Er ist ausgestiegen, herumgeirrt, bildlich jetzt, und hat beinahe die Tür nicht mehr gefunden. Aber nicht wegen der Computertomographie oder dem Neurologen dieses Mal, nicht wegen der Gedanken an irgendetwas ganz anderes, nein, wegen dem Tabernakel. Die Holzkiste, die beim Abendmahl schön verziert und mit Gold bemalt auf dem gedeckten Tisch
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