Altoetting
einfach auslaufen lassen, so lange, bis nichts mehr drin ist. Und schließlich war nichts mehr drin. Nur noch ein »Wiedersehen« und dann – »Wiedersehen!« – waren sie draußen.
Plotek zog die Vorhänge zu und legte sich, angezogen wie er war, auf sein Bett. Jetzt hätte er schlafen wollen, wenn er hätte schlafen können. Aber vergiss es. Kein Auge hat er zubekommen, er hatte Schädelbrummen, als wär ein Hornissenschwarm im Kopf, weil er tausend Gedanken in seinem Hirn und zweitausend Bilder vor Augen hatte. Votivbild, Hemd, Mutschler, Grab, Topf, alles durcheinander wie im Saftmixer.
Die einzige Chance war zu versuchen, an nichts zu denken. Gescheitert. Immer, wenn Plotek versuchte, an nichts zu denken, fiel ihm umso mehr ein. Alles das, von dem er geglaubt hatte, es längst vergessen zu haben, ist ihm bei solchen Gelegenheiten wieder in den Sinn gekommen. Kindheit. Kindheit. Kindheit. Zum Beispiel der Gutshofbrand vor weiß der Teufel wie langer Zeit. Die Wetterkerze leuchtend auf dem Tisch, heiliger Antonius verschone uns!, und er hat verschont. Den eigenen Besitz. Den fremden, den nachbarlichen, dagegen nicht. Blitze am Himmel, Flammen im Gedächtnis, die angekokelten Schweine, die verendenden Kühe mit Schwänzen als Fackeln, Hühner mit brennendem Federkleid. Der heilige Antonius hat dem Nachbarn den Gutshof bis auf die Mauern heruntergebrannt. Beim Gedanken daran stiegen Plotek schwarze Rauchschwaden im Kopf auf – in der Nase noch immer der Geruch nach verbranntem Fleisch. Dann ein Krachen, wie herunterstürzendes Gebälk, und noch mal und immer wieder. Schließlich hat sich Plotek gedacht, jetzt reicht’s aber, so viele Balken sind doch gar nicht auf dem Dach. Dann haben sich die Rauchschwaden wieder verzogen, nur der Totenfleischgeruch blieb noch zurück und das Krachen, das jetzt aber eher nach einem Klopfen klang, nach Knöcheln auf Holz.
Wieder rief Plotek sicherheitshalber: »Herein!«
Und tatsächlich, die Tür ging auf und erleuchtet im Türrahmen, als ob es dahinter noch immer brennen würde, stand eine Person.
»Herr Plotek?«, klang es zuerst ganz zaghaft. Dann, da von Plotek nur Schweigen kam, resoluter:
»Herr Plotek, entschuldigen Sie die Störung. Ich bin gekommen, um dieses ganze saudumme Missverständnis . . . Sie wissen schon . . . vielmals zu entschuldigen«, hat der Erste Bürgermeister, noch immer vom Flurlicht hell erleuchtet, im Türrahmen gesagt.
»Verzeihen Sie diesen hirnrissigen Verdacht.« Jetzt sprach er in normaler Lautstärke, aber mit Überbetonung von »hirnrissig«.
»Ich weiß auch nicht, was diese Kriminalen, diese Mühldorfer Dilettanten geritten hat. Na ja . . . seit Wochen ist Altötting im Ausnahmezustand, das schon, aber trotzdem ist dieses Verhalten natürlich in keinster Weise auch nur annähernd entschuldbar. Ich kann Ihnen versichern, Herr Plotek, das wird Konsequenzen haben, einschneidende Konsequenzen«, hat sich der Brunner ereifert, während Plotek vollends wieder aus der Kindheit zurück war.
»Ja, Herr Plotek, das verspreche ich Ihnen, mit Dienstaufsichtsbeschwerden und noch viel Schlimmerem. Ich hab auch schon mit dem Polizeipräsidenten von Oberbayern, einem alten Schulkameraden von mir, geredet und . . . Fragen Sie nicht, wie der getobt hat.«
Das wollte Plotek jetzt auch gar nicht hören. Allerdings konnte Plotek nicht wissen, dass der Erste Bürgermeister von Altötting die Kriminalen aus Mühldorf nach der Zimmerdurchsuchung tatsächlich wie die Schulbuben zum Rapport hatte antreten lassen. Da hat er dann einen Tobsuchtsanfall nach dem anderen auf das Parkett gelegt, mit Schreien, Beschimpfungen, Drohungen und allem. Brunner stutzte die Kriminalen so dermaßen zusammen, dass die sich vorgekommen sind wie kleine Streifenpolizisten bei stürmischem Regen auf einer viel befahrenen Kreuzung, bei der die Ampelanlage ausgefallen ist. Mehr noch, Brunner wollte die Kriminalbeamten sogar auch noch persönlich dafür verantwortlich machen, wenn die Altöttinger Passionsspiele scheitern sollten. Zuerst haben die Kriminalen natürlich noch ihren Diensteifer mit »ernst zu nehmende Hinweise, Herr Erster Bürgermeister Brunner« zu rechtfertigen versucht. Als aber Brunner tatsächlich mit seinem Spezi, dem Polizeipräsidenten von Oberbayern, gedroht hat, kam sofort das Schuldeingeständnis der kompletten Mühldorfer Kriminalpolizei und der hoch und heiligen Versicherung zur augenblicklichen Besserung, was so viel bedeutete, dass Plotek ab jetzt
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