Altoetting
Anbetracht tausender von Votivtafeln ist Plotek aber schon ins Grübeln gekommen. Ja, vielleicht hätte auch er ein Bildchen aufhängen sollen, als Bitte, dass sich die Heilige Jungfrau auch seiner erbarmen sollte. Also, mit jungfräulicher, gottesmütterlicher Hilfe: Schluss jetzt mit dem permanenten Schädelweh! Kaum hatte Plotek den Gedanken gedacht, verwarf er ihn schon wieder. Der Grund – nein, nicht dass plötzlich sein Kopf vielleicht schmerzfrei gewesen wäre, im Gegenteil –, der Grund war eine Votivtafel, die sich stilistisch von den übrigen Tafeln völlig abhob. Zwar war sie genauso dilettantisch, aber doch ganz anders. Obwohl Plotek keine Ahnung von Malerei hatte, von Gemälden, Kunst und allem. Aber das hier, höchstens 20 auf 30 Zentimeter, strahlte eine magische Anziehung aus. Es war im Stil von Hieronymus Bosch gemalt. Natürlich war das nicht Hieronymus Bosch. Wie auch? Hieronymus Bosch hängt im Louvre, also Paris, oder in New York und nicht im Rundgang der Gnaden-Kapelle in Altötting. Es war vermutlich irgendein unbekannter Zeitgenosse vom Bosch. Ein Kopist und ein schlechtes Plagiat. Aber nicht so sehr der Stil war das, was Plotek faszinierte. Vielmehr das Motiv. Das Bild zeigte das Abendmahl und die zwölf Jünger. Wer nun wer war, war unklar. Zumindest für Plotek. Trotz Vorkenntnisse in katholischer Mythologie, trotz Ministrantentum, Erziehung und allem. Und doch gab es bei näherem Hinschauen eine Überraschung. Die Gesichtszüge der Jünger waren wie aus dem richtigen Leben. Aus der Altöttinger Wirklichkeit. Da war Mutschler, der junge Mutschler, der, der auch im Alt-Neuöttinger Anzeiger abgebildet war und auf dem Fotoschnipsel im Beton gelegen ist. Und daneben Zeiler, der junge Zeiler, und neben dem Arno. Der vierte könnte Granz gewesen sein. Bei dem war sich Plotek nicht ganz sicher. Und tatsächlich, einer von denen war der Judas. Zeiler hat ein Geldsäckchen in der Hand gehalten. In der Mitte war natürlich Jesus. Aber seltsam: Er hat zwar lange Haare gehabt, aber keinen Bart, dafür weiche Gesichtszüge wie die von einer Frau. Das Auffälligste auf dem Bild war aber, weil nur angedeutet und versteckt, also kaum zu sehen, eine Gestalt über dem Altar, schwebend. Eine Art Engel, düster, dunkel und ohne Zweifel mit nichts Gutem im Schilde. So wenig klar die Jünger waren, umso eindeutiger war diese Figur. Das war das Böse, das Unheil. Das Böse war interessanterweise nicht unbedingt Judas. Nein, die Gestalt hinter ihm war der Ursprung allen Übels. Er war quasi nur Mittel zum Zweck. Oder der Zweck heiligt die Mittel. In der Hand der Gestalt befand sich Gift. Natürlich konnte Plotek das nicht sofort erkennen. Er ging näher ran und schon wurde es eindeutig. Es war eine leicht verständliche Symbolik. Wie gesagt, sicher ein malender Stümper, dritte Liga. Im Vergleich zu Bosch war der quasi Regionalklasse. Sicher hatte er es gut gemeint, war aber an der Ausführung kläglich gescheitert. Aber dennoch, eine gewisse Faszination ging von dem Bild aus, vor allem für Plotek. Keine Ahnung warum, das war jetzt so ähnlich wie mit dem Gespür. Eine unerklärliche Vorahnung. Quasi Intuition.
Manchmal war Plotek diesbezüglich von sich selbst überrascht. Zum Beispiel beim Champions-League-Spiel, FCB gegen Manchester in Barcelona, die zitierten drei Minuten bis zur Ewigkeit. Während des Spiels hatte Plotek zu einem Schauspielerkollegen in der Theaterkantine gesagt: »Ich geh jetzt pissen und wenn ich zurückkomme, ist ManU Champions-League-Sieger!«
Hat er einfach so gesagt, ins Blaue hinein. Und, man bedenke, zu diesem Zeitpunkt stand es noch 1:0 für die Bayern. Es waren nur noch drei Minuten zu spielen. Also, aufs Klo und zurück – dazwischen drei Weißbier im Pissoir und zwei Tore im Netz. Wie gesagt, drei Minuten bis zur Ewigkeit. Danach herrschte auf der einen Seite unendliche Traurigkeit, auf der anderen überschwänglicher Jubel. Im Prinzip war alles vorbei und Plotek hatte Recht gehabt. Jetzt wieder. Das Bild vermittelte ihm eine Ahnung von etwas, was noch kommen könnte und sich nicht verhindern lassen möchte. Also eher etwas für die Abteilung von Pater Manuel – Okkultismus und alles. In den Augen von Plotek war das Quatsch. Deshalb nahm er auch gegen das Kopfweh lieber Aspirin zu sich, als mit Votivtafeln zu hantieren. Obwohl er der festen Überzeugung war, dass weder das eine noch das andere half. Wofür das Bild mit dem Abendmahl und der Signatur P. P. nun helfen
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