Altoetting
quietschfidel. Abwechselnd, zum Argwohn der Gaby Mand, hat er mit Manuel geschäkert und mit der Souffleuse Annemarie geflirtet, weil die jetzt fast arbeitslos war, zumindest bis zum großen Auftritt vom Judas.
Also, Arnos Auftritt war jetzt an der Reihe. Zuerst gab es eine lange Pause. Alle hielten den Atem an. Arno dagegen ist, vom vielen Weißbier aufgebläht, ein infernalischer Rülpser entwichen, so dass der Pappmascheefelsen beinahe angefangen hat zu wackeln. Natürlich war das nicht absichtlich, weil selbst im betrunkenen Zustand ist Arno nicht lebensmüde. Es war einfach ein Versehen. Es war ihm auch furchtbar peinlich danach, und er hat tausend Mal um Entschuldigung gebeten. Zumindest konnte man das Wortgestammel dem Tonfall nach so deuten. Niederbühler war aber unerbittlich. Zuerst war er wie paralysiert, dann hat er Arno die ganze geballte Kraft der Verachtung spüren lassen. Der Niederbühler’sche Jähzorn ist ungehindert auf Arno niedergeschmettert. Eine Lawine aus Flüchen, Verwünschungen, Vorwürfen und allem. Die Jünger sind alle zusammengezuckt. Die Maria Magdalena und die Jungfrau Maria haben sich gemeinsam hinter den Pappmascheefelsen in Deckung gebracht. Die Souffleuse ist zurück in den Soufflierkasten. Und auch Plotek war wie gelähmt.
»Natürlich der Brunner! Immer ist’s der Brunner! Früher schon und heute auch!«, hat Niederbühler geschrien.
Alte Geschichte also.
»Immer nur Blödsinn im Kopf, der Brunner! Wie auch Granz, Mutschler und Zeiler, damals und heute. Die dreieinigen Vier! Die anderen drei sind tot, also reiß dich wenigstens ihnen zu Ehren zusammen!«
Natürlich war das gemein, mit Toten zu hausieren. Die postwendende Reaktion war, dass Arno angefangen hat zu weinen und darin Niederbühlers cholerischen Anfall ertränkt hat. Er hat ihm damit den Wind aus den Segeln genommen. Niederbühler hat sich also wieder beruhigt – dafür war Arno nicht mehr zu beruhigen. Zuerst kam die Souffleuse Annemarie aus dem Soufflierkasten gekrochen, dann ist die Maria Magdalena hinter dem Pappmascheefelsen hervorgekommen, und beide sind jetzt auf Arno zu, um ihn zu trösten. Gekümmert haben die sich um ihn, wie um einen Verletzten. Da fehlte nur noch die stabile Seitenlage. Niederbühler bekam ein schlechtes Gewissen. Niederbühler hat immer ein schlechtes Gewissen nach so einem Anfall bekommen. Da sind die Choleriker doch sehr verschieden. Dr. Kainz zum Beispiel war nach dem cholerischen Anfall genauso wie vor dem cholerischen Anfall. Kein Unterschied, als ob dazwischen nie eine cholerische Attacke gewesen wäre. Also keine Demütigungen, Beleidigungen und alles. Die Merz Monika konnte davon ein Lied singen. Der Niederbühler dagegen war wie ein geprügelter Hund danach. Wobei so eine herzergreifende Reaktion von Arno natürlich alles noch mal potenziert hat. Gaby Mand hatte alle Hände voll zu tun, Niederbühler nicht ganz ins schwarze Loch fallen zu lassen. Also, auf der einen Seite ist der schluchzende Arno von den Frauen der Laienspielgruppe aufopferungsvoll behandelt worden. Auf der anderen Seite wurde Niederbühler von Gaby Mand umsorgt. Dazwischen standen Plotek und der Rest des Ensembles. Wie Ben-Hur-Statisten in einem Raumschiff-Enterprise-Film haben sie dabei ausgeschaut. Die Altöttinger Laienspielgruppe glich jetzt einem römischen Lazarett. Menschliche Tragödien und mitmenschliche Fürsorge lagen ganz dicht beieinander. Plotek fand das grauenvoll. Nicht mit anzusehen. Da war Plotek wieder mal ganz eigen. Alles konnte Plotek spielen, vom Kinder schändenden Mehrfachmörder über den mordenden Amokläufer bis zum frauenverfallenen Einfachtäter. Aber ein echtes menschliches Schicksal, mit eigenen Augen gesehen und mit Tränen in den fremden, war für ihn schrecklich. Und noch schlimmer war die Anteilnahme der Mitfühlenden. Da war es bis zum Plotek’schen Hass nicht mehr weit. Und im Hassen war Plotek Weltmeister. Natürlich meist ungerechtfertigt. Ja, da hat Plotek alle viel beschworene Solidarität in den Wind geblasen. Die Spendenkonten oder der nationale Aufruf zur Unterstützung von wem oder was auch immer wurde da zu einem roten Tuch für Plotek. Kosovo-Hilfe, Flutopfer, Brot für die Welt, Hungerkatastrophe und alles – ganz egal. Nein, nicht wegen dem Geld. Plotek war ja ansonsten spendabel. Sondern wegen dem Gestus. Je höher die Summe, umso großartiger ist das eigene Befinden. Die Hilfe wird zählbar und zur Anteilnahme von Buchhaltern. Quasi nationale
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