Altraterra. Band 1: Die Prophezeiung (German Edition)
seinen Besitzer. Erst nach einer halben Stunde schien sich Miraj beruhigt zu haben und blieb ein wenig zurück, sodass Anne zu ihm aufschließen konnte. „Tut mir leid, der Vorfall in der Bibliothek. Ich habe mich draußen gelangweilt und wollte mich nur ein wenig umsehen.“ – „Du solltest hier besser nicht zu neugierig sein“, brummte Miraj. „Genau solche Situationen haben mir die ehrwürdigen Herren vom Hohen Rat prophezeit, wenn du hier lebst.“ Anne stutzte. „Ihr habt über mich gesprochen?“ Ihr Begleiter wirkte noch immer verstimmt. „Viel ausführlicher, als ich es mir vorgestellt hätte. Ich wollte über Henri reden und so bald wie möglich einen Trupp zu seiner Befreiung zusammenstellen. Aber die ehrwürdigen Herren teilten mit mir, sie müssten sich zu diesem Thema erst in Ruhe beraten und ich solle in ein bis zwei Wochen mit der Entscheidung rechnen.“ Anne runzelte die Stirn. „Das klingt nicht sehr ermutigend.“
Miraj schnaubte wütend: „In ein bis zwei Wochen haben sie ihn vermutlich getötet und wenn nicht, dann wird er bis dahin auf das Grausamste gefoltert.“ – „Aber wissen die ehrwürdigen Herren das denn nicht?“ fragte Anne. „Doch, natürlich“, antwortete Miraj ungeduldig, „aber der hohe Rat hat momentan einen schwierigen Stand beim Volk, weil er die Prüfung für Henri genehmigt hat. Und statt nun die Konsequenzen mitzutragen, tun die Herren so, als seien sie überredet worden und machen erst einmal gar nichts. Du kannst dir vorstellen, dass die Befreiung von Henri keine angenehme Angelegenheit würde. Eventuell kämen Menschen und Magier dabei um und der Hohe Rat möchte die Verantwortung dafür vorerst nicht übernehmen. Also sitzen sie die Sache aus und erst, wenn etwas Gras darüber gewachsen ist, fällen sie eine Entscheidung.“ Anne sah ihn erschüttert an. „Das klingt, als ob Henris Leben dem Hohen Rat ziemlich egal ist.“ Miraj wog den Kopf hin und her, dann zuckte er mit den Achseln und öffnete den Mund, machte ihn aber gleich darauf wieder zu. Er schwieg eine Weile und erklärte dann: „Siehst du Anne, das kann man so nicht sagen. Das ist eben der Unterschied zwischen Menschen und Magiern. Magier handeln niemals aus dem Bauch heraus und lassen sich nicht von Emotionen wie Angst oder Mitleid leiten. In ihren Augen hat Henri eine nicht nachvollziehbare Entscheidung getroffen. Kein Grünmagier würde auf solch eine Mission gehen, wenn er nicht sicher wüsste, dass er als Sieger daraus hervorgeht. Kein Grünmagier würde sich provozieren lassen. Die Magier wägen alle ihre Entscheidungen sorgfältig ab und treffen sie mit dem Verstand und nicht mit dem Herzen. Das ist es, was das Zusammenleben von Menschen und Magiern oftmals so schwierig macht. In ihren Augen sind wir labil und überemotional.“
Miraj hatte sich beim Reden ereifert, nun verfiel er in düsteres Schweigen. Anne wusste wieder einmal nicht, was sie von all dem halten sollte. Sie dachte an den Studenten, den sie vorhin gesehen hatte. Jamiro hatte er geheißen. War er ebenfalls so kalt und rational? Anne konnte sich das nicht vorstellen. Er war so schön und fröhlich gewesen. Sie nahm sich vor, die Grünmagier erst mal eine Weile zu beobachten. Sicher waren sie nicht alle gleich und der Hohe Rat war der Vernunft nur in besonderem Maße verpflichtet. So in ihre Gedanken versunken, merkte Anne erst nach einer ganzen Weile, dass sie etwas vergessen hatte. „Was hat der Hohe Rat denn nun über mich gesagt?“, brach sie das Schweigen. Miraj sah sie an. „Die ehrwürdigen Herren haben ihre Zweifel geäußert, ob es klug wäre, dich aufzunehmen. Bislang leben nur wenige Zauber-Unkundige in diesem Teil der Welt. Da ist es jedes Mal eine große Verhandlung. Ich habe den Herren bereits gesagt, dass ich die Verantwortung für dich übernehme und mich um dich kümmern will. Sie sagten, sie würden mich morgen rufen lassen und mir ihre Entscheidung mitteilen.“ Anne runzelte die Stirn. Zwar hatte sie gestern noch gezweifelt, ob sie hier überhaupt leben wolle. Aber nun hatte sie so vieles gesehen, was sie neugierig machte, und wünschte sich Zeit, diese Welt zu erkunden. Sicher würde es in der Verhandlung enorm helfen, wenn sie Miraj verriet, dass sie INVISIBEL benutzt hatte. Aber bevor sie versuchte, irgendjemandem zu erklären, dass sie magische Kräfte hatte, wollte sie zunächst einmal für sich herausfinden, wie diese aussahen. Also hielt Anne sich weiterhin bedeckt.
Sie waren noch etwa
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