Altraterra. Band 1: Die Prophezeiung (German Edition)
Spiegelbild. Erst nach einigen Minuten zeichnete sich zunächst undeutlich, dann immer klarer, der Umriss einer Frau ab. Anne erkannte, dass sie selbst es war, aber nicht ihr heutiges Ich. Die Anne im Spiegel war eine alte Frau mit grauem Haar. Dennoch war sie schön, viel schöner als Anne sich heute sah. Die Frau trug ein zufriedenes Lächeln auf den Lippen. Dann auf einmal zeigte der Spiegel das Bild eines Flusses. Die Wellen schlugen über der alten Anne zusammen und plötzlich sah sie der heutigen Anne wieder ähnlicher. Dann wurde der Spiegel dunkel. Anne wartete noch eine Weile, doch als nichts mehr kam, öffnete sie die Tür und erstattete der Oberin Bericht. Diese machte ein erstauntes Gesicht. „Sehr rätselhaft, aber gut.“ Dann erklärte sie: „Der Spiegel zeigt die Zukunft. Manch einer beobachtet sich selbst darin, wie er etwas ganz Furchtbares tut und erholt sich sein Leben lang nicht mehr von dem Schmerz. Andere sehen ihren eigenen Tod. Was du gesehen hast, vermag ich nicht zu deuten. Aber dass du stolz warst und gelächelt hast, ist ein gutes Zeichen. Du hast auch die zweite Prüfung bestanden. Nun werde ich dich auf dein Treffen mit der weisen Samira vorbereiten.“ Anne seufzte erleichtert auf. Bislang war alles ganz anders verlaufen, als sie es sich gedacht hatte. Nun schien sie den schwierigsten Teil hinter sich zu haben.
„Es gibt ein paar Dinge, die du wissen musst, bevor du mit der weisen Samira sprichst“, begann die Oberin und nahm nun ihrerseits im Ohrensessel Platz. „Zunächst einmal ist die weise Samira blind. Sie wird auf dich zukommen und dein Gesicht ertasten. Normalerweise liegt hierin die dritte Prüfung. Wenn das, was sie erfühlt, ihr missfällt, weigert sie sich, mit demjenigen zu sprechen. Das wird hier wohl kaum passieren, da sie dich ja selbst zu sich gerufen hat.“ Anne nickte. „Wenn sie dich erfühlt hat, wird sie dich bitten, auf einem Stuhl Platz zu nehmen“, fuhr die Oberin fort. „Dann wird sie sich in eine Trance versetzen, in der sie in der Lage ist, zu sehen, was kommen wird. Du musst unbedingt auf deinem Stuhl sitzen bleiben und warten, bis sie sich gesammelt hat, wie lange es auch dauert. Erschrick nicht, falls sie in ihrer Trance schreit oder andere erschreckende Laute von sich gibt. Das gehört dazu.“
Anne wurde zunehmend mulmig. Sie hatte gehofft, mit der weisen Samira über verschiedene Dinge sprechen zu können, aber dies klang nun ganz anders. Die hohe Schwester fuhr fort: „Wenn sie zu dir spricht, wird sie eine Voraussage machen, was geschieht. Danach wird sie in einen tiefen Schlaf fallen und nicht mehr mit dir Kontakt aufnehmen können. Sobald deine Voraussage getroffen ist, musst du den Saal verlassen. Solltest du irgendwelche Fragen haben, so kannst du sie nur stellen, bevor Samira in Trance fällt. Hast du soweit alles verstanden?“ Anne bejahte. „Dann werde ich dich nun in den Magnoliensaal bringen.“
Die Oberin ging die Wendeltreppe weiter hinauf. Sie passierten dabei mehrere Stockwerke mit geschlossenen Türen. Dahinter mussten die Schwestern des Ordens leben. Normalerweise hätte Anne gern einen Blick hineingeworfen, aber nun war sie viel zu gespannt auf ihr Treffen mit der weisen Samira und vermutete ohnehin, dass jeder Blick zu viel an diesem geheimnisvollen Ort verboten sei. Anne war bereits ein wenig außer Atem, als sie endlich im obersten Stockwerk ankamen und vor einer blauen Tür anhielten. „Ich verlasse dich hier“, sagte die Oberin. „Wenn du aus dem Magnoliensaal heraustrittst, gehst du einfach die Treppe hinunter bis in den Saal und wartest dort. Jemand wird dich abholen und zurück nach Viriditas bringen. Und nun viel Glück. Mögest du Antwort auf deine Fragen finden, Anne, Isadoras Tochter.“ Damit wandte sich die Oberin ab und eilte die Treppe hinab. Anne hörte, wie sich unten eine Tür schloss. Sie atmete noch einmal tief durch und klopfte dann an der blauen Tür. Im selben Moment sprang diese auf.
Kapitel 25: Die weise Samira
Den Raum, den Anne nun betrat, sah sie nicht zum ersten Mal. Er war wie eine Blüte geformt und enthielt das runde Fenster, durch das Anne in ihrem Traum hineingeschwebt war. So war sie nicht überrascht, in der weisen Samira die alte Dame wiederzuerkennen, die sie mit ihrer Melodie zu sich gerufen hatte. Doch ihre bernsteinfarbenen Augen blickten nun wie durch Anne hindurch. „Ich bin die, die du gesucht hast. Tritt ein und nimm Platz“, sagte die weise Samira, die in eine
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