Altraterra. Band 1: Die Prophezeiung (German Edition)
negative Gefühle nicht an sich heranlassen darf. Aber würden positive Gefühle nicht den Zauber noch besser gelingen lassen?“ Jamiro sah sie ein wenig verlegen an. „Davon verstehe ich nichts. Wir Grünmagier lernen bereits als Kinder, unsere Gefühle zu unterdrücken, damit sie nicht unsere Fähigkeiten behindern. Vielleicht funktioniert das bei euch Menschen anders, da ihr ja ohnehin nicht so starke Kräfte besitzt.“ Jamiro schien hin- und hergerissen zu sein zwischen den Vorurteilen gegenüber Menschen, die man ihm offensichtlich beigebracht hatte, und dem Wunsch, Anne zu gefallen. Sie musste beinahe lachen über seine Antwort. Aber sie mochte diesen jungen Grünmagier und konnte gar nicht finden, dass er gefühllos war.
Den restlichen Tag sprachen sie über andere Dinge: Jamiros Arbeit beim Hohen Rat, Annes Gespräche mit Silvia, die sie als ihre Pflegemutter vorstellte, jedoch ohne zu erwähnen, dass sie Mirajs Mutter war. Sie lachten viel und Anne hatte mehr und mehr das Gefühl, einen Freund gewonnen zu haben. Kurz bevor sie sich verabschiedeten, gingen sie erneut in die Bibliothek und liehen einen Band „Zaubersprüche für Anfänger“ aus. Jamiro hatte seine Meinung kundgetan, dass INVISIBEL nun wirklich nicht für Studien-Neulinge geeignet sei und Anne hatte ihm verschwiegen, dass sie den Zauber bereits zweimal erfolgreich angewandt hatte. Es genügte schon, dass er über ihre Somnia-Fähigkeit Bescheid wusste. Auch vom Besuch bei der weisen Samira hatte sie ihm lieber nichts erzählt. Sie wollte zumindest am Anfang ihrer Bekanntschaft nicht verraten, dass sie Isadoras Tochter und Henris Schwester war. Und als Jamiro vorschlug, dass sie sich beim nächsten Mal in der Nähe ihres Hauses trafen, damit sie nicht immer den weiten Weg auf sich nehmen musste, lehnte Anne ab unter dem Vorwand, Silvia sehe es nicht gern, wenn sie sich mit Jungen treffe.
Also verabredeten sie sich wieder für drei Tage später an der Universität und Anne freute sich schon darauf. Zum Abschied gab ihr Jamiro einen Kuss auf die Wange und drückte sie kurz. Anne kam ins Grübeln, ob das eine rein freundschaftliche Geste war oder Jamiro womöglich mehr erwartete. Doch sie verwarf den Gedanken auf dem Heimweg bald wieder, da sie so glücklich war, endlich jemanden zu haben, mit dem sie reden konnte.
Kapitel 28: Henris Schwester
Zu Hause angekommen stürzte sich Anne gleich auf den neuen Band mit Zaubersprüchen. Die nächsten Tage kam sie nur zu den Mahlzeiten aus dem Zimmer und probierte und experimentierte, was das Zeug hielt. Da es Sprüche für Anfänger waren, kam Anne damit verhältnismäßig gut zurecht und zwischendurch versuchte sie sich immer wieder darin, eben herbeigezauberte Dinge mit Hilfe von INVISIBEL verschwinden zu lassen.
Einmal kochte sie mithilfe eines Zaubers sogar das Mittagessen. Silvia freute sich darüber, doch als sich die beiden zum Essen setzten, stellten sie fest, dass Anne wohl doch noch ein wenig Übung fehlte, denn das Salzfass schien sich auf magische Weise verselbstständigt zu haben. Beide tranken zu diesem Essen literweise Wasser. Danach kochte Anne lieber wieder ohne Zauber.
Ehe sie sich versah, war es schon wieder an der Zeit, nach Viriditas aufzubrechen. Jamiro begrüßte sie dort auf die gleiche Weise, wie er sich beim letzten Mal von ihr verabschiedet hatte. Allerdings hatte Anne den Eindruck, seine Lippen seien von ihrer Wange ein wenig mehr in Richtung ihres Mundes gewandert. Da sie aber in Liebesdingen noch recht unerfahren war, abgesehen von einem frühen Kuss mit einem Nachbarsjungen, dessen Familie später weggezogen war, dachte sie nicht weiter darüber nach.
Jamiro hatte vorgehabt, mit Anne in eine Schenke zu gehen, die tiefer im Zentrum von Viriditas lag, doch Anne wollte nicht riskieren, dass sie zu spät nach Hause aufbrach. Also holten sie sich in der Mensa der Universität Fortitudo und Gebäck zum Mitnehmen und setzten sich auf die Stufen der Universität, wo sie sich über Annes neu erlernte Zaubersprüche unterhielten. Sie saßen noch nicht lange dort, als Miraj plötzlich aus dem Haupteingang kam. Er stutzte, als er Anne mit Jamiro sah, und kam auf sie zu. Er war blass und wirkte übernächtigt. „Hallo Anne“, sagt er. Dann warf er einen finsteren Seitenblick auf ihren Begleiter und nickte ihm flüchtig zu. „Was verschlägt dich denn an die Universität? Wolltest du mit mir reden?“ Annes Herz klopfte laut, jetzt, wo sie ihn endlich wiedersah, aber sie
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