Altraterra. Band 1: Die Prophezeiung (German Edition)
habe dich liebend gern hier in meinem Haus, aber es ist wichtig, dass du eine Zukunft hast. Vielleicht solltest du mit Miraj darüber sprechen.“ Anne spürte schon wieder die Wut in sich hochsteigen. „Wie denn? Er ist ja nie da, um zuzuhören, sondern verbringt lieber seine gesamte Zeit mit Jana.“ Anne seufzte. Nun waren ihr schon zum zweiten Mal heute Dinge über die Lippen gekommen, die sie besser für sich behalten hätte. Allerdings gab es hier niemanden, der sie zwang, absolut ehrlich zu sein. Silvia sagte sogleich: „Du bist ungerecht, Anne. Miraj verbringt seine Zeit nur mit Jana, weil sie mit ihm zusammenarbeitet. Ich bin mir sicher, dass er sich Zeit für dich nehmen würde, wenn er sie hätte.“ Aber Anne war nicht davon abzubringen, dass Miraj sie im Stich ließ. „Er hat mir versprochen, dass er immer für mich da ist. Und jetzt, wo ich ihn brauche, verbringt er seine Zeit mit einer anderen.“ Silvia schüttelte den Kopf. Dann sah sie Anne ernst an. „Wenn mein Sohn dir so viel bedeutet, dann solltest du ihm ein Zeichen geben, dass du dich allein fühlst. Er weiß ja nicht, was sich hier inzwischen ereignet hat und wie dringend du mit ihm über deine Zukunft reden musst. Schreib ihm einen Brief, dass du seinen Rat benötigst, dann wird er sicher Zeit für dich finden. Man bricht nicht den Stab über jemanden, der gar nicht weiß, dass man ihn braucht.“
Plötzlich kamen Anne die Tränen. „Nein. Wenn ihm irgendwas an mir liegen würde, dann bräuchte er nicht erst eine Aufforderung, sich um mich zu kümmern. Dann wäre er längst hier, nicht weil ich ihn brauche, sondern weil ich ihm etwas bedeute und er gerne Zeit mit mir verbringt.“ Anne schluchzte laut. Silvia streichelte ihr den Rücken. „Ich verstehe dich ja, Anne. Dein Vater ist tot, dein Bruder verschleppt worden und deine ganze Welt wurde auf den Kopf gestellt. Und du brauchst dringend jemanden, der für dich da ist und dir raten kann. Aber Anne, ich kenne meinen Sohn. Er hat die Verantwortung für dich übernommen und er schätzt dich sehr. Wenn es nicht etwas wirklich Dringendes gäbe, was seine ganze Aufmerksamkeit beansprucht, würde er sich um dich kümmern.“ Anne sah sie mit verweinten Augen an. „Ich glaube, ich liebe ihn“, sagte sie schluchzend. Silvia nickte nachdenklich. „Vielleicht. Aber darf ich dir einen Rat geben? Männer mögen es nicht, wenn man ihnen hinterher weint. Sie bewundern Frauen, die es schaffen, allein zurechtzukommen, wenn es sein muss und die es akzeptieren, wenn sie wichtige Dinge zu erledigen haben. Wenn du wirklich willst, dass er in dir mehr sieht als ein weinerliches junges Mädchen, dann musst du es eben ohne ihn schaffen. Verstehst du, was ich meine?“
Anne nickte. Sie hatte einen solchen Rat nicht erwartet, aber Silvia hatte sie an einer empfindlichen Stelle getroffen: ihrem Stolz. Nein, sie würde ihre Zeit nicht damit verbringen, zu jammern, weil Miraj fort war oder eine andere liebte. Sie würde sich ganz auf ihre Studien konzentrieren und hoffen, dass die weise Samira mit ihren Worten – kommt Zeit, kommt Rat – richtig lag. Sie wischte sich die letzten Tränen weg. „Also gut. Dann gehe ich jetzt hoch und lese in meinen Büchern.“ Silvia lächelte wohlwollend. „Siehst du, Anne, so gefällst du mir. Aber besser, du legst dich erst einmal hin und ruhst dich aus. Nach einem so anstrengenden Tag braucht der Geist eine Pause. Sei nicht zu streng mit dir.“ Anne lächelte zurück. Sie fühlte sich nun in der Tat etwas besser. Sie putzte sich die Nase, stand auf und ging die Treppe hinauf.
Kurz bevor sie oben war, drehte sie sich noch einmal um. „Silvia?“, rief sie. Als die Antwort kam, sagte Anne: „Ich danke dir. Meine Mutter ist früh gestorben und ich erinnere mich kaum an sie. Aber so habe ich mir die Gespräche immer vorgestellt, die man mit seiner Mutter führt. Und ich bin mir sicher, dass Miraj dich auch öfter besuchen würde, wenn er mehr Zeit hätte.“ Es dauerte einen Moment, bis Silvia erwiderte: „Danke, mein Kind. Ich bin immer auf deiner Seite. Wenn du wieder einmal Kummer hast, können wir gerne darüber sprechen. Auch wenn ich Dir bei allen magischen Fragestellungen leider nicht helfen kann.“
Anne ging in ihr Zimmer und schloss die Tür. Sie fühlte sich plötzlich wieder stark und energiegeladen. Aus einem Impuls heraus sagte sie laut INVISIBEL und spürte sofort, wie sie unsichtbar wurde. Zum Glück würde Silvia ihr Zimmer eine Weile nicht
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