Altraterra. Band 1: Die Prophezeiung (German Edition)
Arm um ihn.
„Seit ich dich kenne, Anne, bewundere ich deine Klugheit. Wie kann ein so junger Mensch nur so viel von der Welt verstehen?“ Er lächelte beinahe wieder und sah ihr in die Augen. Einen Augenblick dachte Anne, er wolle sie küssen und ihr wurde ein wenig schwindelig. Aber stattdessen stand er auf und sagte: „Ich werde Gisalen bitten, uns etwas Ordentliches zum Abendessen herrichten zu lassen. Seit Tagen habe ich nicht mehr zu Hause gegessen. Du solltest heute Nacht hier bleiben, es ist zu spät, um noch zurück zu reiten.“ Schon war er aus dem Zimmer verschwunden. Anne blieb allein zurück und sah ihm nach.
Kapitel 29: Die Fragende
Zusammen mit Gisalen saßen Miraj und Anne noch bis spät in die Nacht am Tisch, aßen und unterhielten sich. Als Miraj anfing, Anekdoten über Henris erste Zeit an der Universität und seinen unendlichen Sturkopf zu erzählen, entstand allmählich eine Atmosphäre wie bei einem Leichenschmaus. Auch Anne gab Erlebnisse aus ihrer gemeinsamen Kindheit zum Besten und obwohl der Anlass eher traurig war, hatten sie bei diesem Gespräch alle viel zu lachen. Es dauerte nicht lange, bis auch andere Figuren ihrer Vergangenheit in den Geschichten auftauchten. Miraj erzählte von Gwynda und Isadora, Anne von ihrem Vater und bald kam es ihr so vor, als sei dies ein Familienessen und die Geister der Verstorbenen säßen mit ihnen am Tisch. Seltsam berührt, doch getröstet schlief Anne erst in den frühen Morgenstunden ein.
Als sie erwachte, hatte Miraj bereits das Haus verlassen. Es gab Anne einen kleinen Stich, denn irgendwie hatte sie gehofft, ihn noch einmal zu sehen, nachdem sie sich gestern beide so viel von der Seele geredet hatten. Sie hatte sich ihm sehr verbunden gefühlt. Aber wie es schien, hatte der Alltag sie nun wieder eingeholt. Anne frühstückte in Gesellschaft von Gisalen und ritt bald zurück nach Hause.
Die Nachricht von Henri hatte Silvia noch nicht erreicht und auch sie war bestürzt. Als Anne ihr von dem gemeinsamen Abendessen erzählte, trat ein wehmütiger Ausdruck auf Silvias Gesicht. „Ich wünschte, ich wäre dabei gewesen.“ Anne konnte sie verstehen. Sie hätte ebenfalls an diesen Tisch gehört, auch wenn sie keine Zauberkräfte hatte. Überdies hatte sie ihren Sohn lange nicht zu Gesicht bekommen.
Am Nachmittag nahm sich Anne wieder ihrer Bücher an. Sie dachte, dass es besser sei, sich abzulenken. Die wichtigsten Dinge hatte sie bereits gelesen, doch es blieben ihr noch die drei Bände über die Universität, das Buch über die Schwarzmagier und jenes über magische Pferde. Sie begann mit den Büchern über Scientia.
Die Entstehungsgeschichte und die Architektur des Gebäudes interessierten Anne nicht sonderlich. Spannender waren da schon die aktuelleren Informationen. Anne erfuhr, dass das Wintersemester an der Universität im Oktober begann – den Anfang hatte sie also bereits verpasst – und das Sommersemester im April. Ferner entnahm sie einem der Bücher den genauen Ablauf einer Aufnahmeprüfung. Viel mehr interessante Informationen waren nicht in ihnen, doch die Lektüre festigte Annes Wunsch, endlich in Scientia zu studieren. Warum hatte der Orden nicht dem Hohen Rat Bescheid gegeben, dass Anne über Kräfte verfügte? Sie haderte ein wenig mit ihrem Schicksal und konnte nur darauf hoffen, dass die weise Samira tatsächlich richtig damit lag, dass sich Annes Zukunft früher oder später von selbst ergeben würde.
Kaum hatte sie das Buch zugeklappt, als der Gedanke an Henri sie wieder einholte. Sie versuchte sich in Erinnerung zu rufen, wie scheußlich er sich ihr gegenüber verhalten hatte. Aber stattdessen fielen ihr nur die Erlebnisse aus ihrer gemeinsamen Kindheit ein, als Henri und sie noch gemeinsam gespielt hatten. Tränen liefen ihr die Wangen hinunter und tropften auf den Schreibtisch. Der einzige Trost war, dass sie wusste, Miraj, Silvia und Gisalen trauerten mit ihr. Ganz allein war sie wenigstens nicht. Als sie sich ein wenig beruhigt hatte, versuchte Anne zu schlafen, doch es ging nicht. So gab sie auf und setze sich wieder an ihre Lektüre.
Mit dem Buch über die Schwarzmagier beschäftigte sich Anne beinahe die ganze Nacht. Es war darin zu lesen, dass es ursprünglich nur ein Volk von Magiern in Altraterra gegeben hatte. „Die Spaltung entstand erst, als die heutigen Schwarzmagier verkündeten, ihnen sei durch ihre Kräfte die Macht gegeben, die Welt zu beherrschen.“ Dies war im ersten Zeitalter geschehen,
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