Altwerden ist nichts für Feiglinge - Fuchsberger, J: Altwerden ist nichts für Feiglinge
geringste Interesse, helfend einzugreifen.
Als das gern und oft gebrauchte Wort »Arschloch« bei der Schalterbeamtin auch beim dritten Mal keine Wirkung zeigte, sah ich mich dummerweise verpflichtet einzugreifen. Warum bloß? Ging mich doch gar nichts an! Alle anderen nahmen doch auch ruhig und gelassen an diesem west-östlichen Schlagabtausch teil. Außerdem war da ja der männliche Kollege, soll der sich doch um den Schutz seiner auf Lebenszeit verbeamteten Kollegin kümmern!
Im Grünwalder Postamt sah ich mich vom Schicksal
vor eine Entscheidung gestellt. Entweder: Schauen wir mal, was passiert, einer wird’s schon richten - oder: Verteidigung deutscher Beamtenwürde, noch dazu weiblicher, von wegen »männlicher Sympathieträger«!
Vielleicht hatte ich es auch nur eilig, meine Regierung wartete im Wagen vor dem Postamt. Sie würde sich wohl schon wundern, wo ich blieb. Sie macht sich immer Gedanken! Also beschloss ich, einzugreifen! Ich Dummkopf!
So verließ ich den Schutz der Schlange vor dem Schalter, näherte mich energischen Schrittes dem erregten Gastarbeiter, legte ihm besänftigend die Hand auf die Schulter: »Lieber Freund, bei uns hier in Deutschland brüllt man nicht in der Gegend herum und beschimpft keine Postbeamtin. Bitte gehen Sie raus an die frische Luft und beruhigen Sie sich. Am besten suchen Sie ein anderes Postamt, hier werden Sie keine Briefmarke mehr bekommen!«
Der Sinn meiner Worte schien sich ihm nicht so recht zu erschließen. Er sah mich einen Moment verdutzt an, kam zu dem Schluss, dass ich ihn wohl nicht gebührend ernst nehme, und stieß mich mit beiden Fäusten vor die Brust.
»Du alte Arschloch, du warte, bis ich fertig bin!«
Der Stoß warf mich rückwärts in die Arme der
jetzt teilnehmenden Postkunden. Eine an sich günstige Position, aber mein Gegner hatte den Wunsch, die Attacke fortzusetzen. Dabei brachte er sich in eine ungünstige Position, die mich in die Lage versetzte, ihn in den Hintern zu treten. Eine Handlungsweise, die in anderen Kulturkreisen als tiefste Ehrverletzung gilt und entsprechende Reaktionen auslöst.
Im Fernsehen und im Radio sieht und hört man doch ab und zu, dass das Messer im osteuropäischen Raum ganz gern auch außerhalb der Mahlzeiten benutzt wird. Zwar gibt es keine Statistiken, wie schnell dieses geschliffene Kulturgut zum Einsatz kommt. Auch nicht über warnende Vorzeichen bei Ausfall der Kontrollmechanismen beim Träger des Kulturgutes. Dessen innere Stimme sagt vermutlich völlig überraschend: »Hallo - deine Ehre wurde soeben mit Füßen getreten, du musst dich jetzt rächen, und zwar hieb- und stichfest!«
Wenn der Entehrte auf seine innere Stimme hört und diese auch ernst nimmt, hast du ein Problem. So eine innere Stimme kann enorme Kräfte entwickeln, mit denen der Entehrte im ersten Augenblick nicht so recht was anzufangen weiß. In solchen Fällen spricht man von Affekthandlung. Sah ich mich einer solchen in diesem Augenblick vielleicht gegenüber? Wer weiß, was die innere Stimme ihrem Besitzer
gerade zuflüsterte? Vielleicht, dass es an der Zeit sei, mein Leben, in der Schalterhalle des Grünwalder Postamtes zu beenden?
Der Gesichtsausdruck meines Kontrahenten ließ immerhin etwas in dieser Richtung befürchten.
Plötzlich löste sich die Starre der Zuschauer. Sie nahmen teil am Geschehen, ergriffen Partei für mich. Lediglich der männliche Kollege hinter dem Schalter konnte sich immer noch nicht zu einer Regung entschließen. Er ignorierte den Vorfall total. Möglicherweise mahnte ihn seine innere Stimme: »Ein deutscher Beamter regt sich nicht auf. Wenn du nichts tust, kannst du nichts falsch machen!«
Das Publikum spaltete sich. Die einen drängten den Mann mit vereinten Kräften zum Ausgang, die anderen brachten mich, unter Anführung der ortskundigen Angegriffenen, zunächst hinter den Schaltern in Sicherheit, und anschließend zum Hinterausgang. Die während des strategischen Rückzugs abgesonderten Kommentare waren eher beleidigend denn beruhigend.
»Was haben Sie sich dabei denn gedacht?«
»In Ihrem Alter fängt man doch keine Schlägerei mehr an...!«
»Da hätte ja weiß Gott was passieren können...!«
Das hatte ich nun davon.
Der am meisten erniedrigende Spruch war: »Was wird denn Ihre Frau dazu sagen...?«
Die wiederum saß im Auto, am Hinterausgang, und war erkennbar alarmiert.
»Ach du lieber Gott, was ist denn jetzt schon wieder passiert?«
Das war genau der Tonfall, den ich besonders mag.
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