Alvion - Vorzeichen (German Edition)
die Länder Velias bereist hatte, liebte er seine Heimat nicht weniger. Darum beneidete ich ihn, denn er konnte immer wieder in seine Heimat zurückkehren, während mir dies nie wieder möglich sein würde.
Immer noch schwieg Tian und blickte mich über den Tisch hinweg an, denn er sprach nur, wenn er auch etwas zu sagen hatte, das hatte ich bei ihm schnell erkannt. Noch fühlte ich mich nicht in der Lage weiter zu sprechen, denn die Erinnerung an den schlimmsten Tag meines Lebens schmerzte, als hätte sich alles erst am gestrigen Tage ereignet.
Erst allmählich gelang es mir, meine Gedanken wieder in andere, erfreulichere Bahnen zu lenken, wobei mir Tians Schweigen eine große Hilfe war, denn in diesem Moment hätte er nichts tun oder sagen können, was mir Trost gespendet hätte. Es kam mir zu Bewusstsein, dass ich zum ersten Mal einen Freund gefunden hatte, dem ich mich anvertrauen konnte. Warum wusste ich nicht, aber ich gehorchte dem mir eigenen, lyranischen Gespür.
Kurz dachte ich an jenen Abend zurück, an dem wir zusammengetroffen und auf Anhieb Freunde geworden waren. In den darauf folgenden Wochen hatte sich ein enges Band der Freundschaft entwickelt und bereits jetzt schien es, als würden wir uns eine Ewigkeit kennen.
Daher hatte ich nach einigem Zögern mein langes Schweigen gebrochen und mein Geheimnis preisgegeben, doch ich fühlte, dass es die richtige Entscheidung gewesen war. Das Aufwühlen der Erinnerungen hatte mich natürlich in Aufruhr versetzt, obwohl es auch gut getan hatte, mir diese Dinge einmal von der Seele zu reden. Eine Weile saßen wir noch beisammen und ich empfand Dankbarkeit für Tians’ Schweigen. Als ich schließlich wieder in der Lage war zu sprechen, ließ ich das Thema Alyra einfach fallen. Stattdessen erzählten wir uns gegenseitig von zurückliegenden Abenteuern jeder Art, und nach und nach fühlte ich mich wieder besser. Doch jenes Drängen, das mich wieder hinauszog, war wieder erwacht und ich wusste, dass es nicht verschwinden würde, wenn ich ihm nicht nachgab.
„ Ist es dir Recht, Tian, wenn wir uns gleich morgen wieder nach einem Auftrag umsehen oder einfach losziehen, wenn wir keinen finden?“, fragte ich ihn ziemlich unvermittelt. Forschend musterte er mich eine Weile, dann nickte er.
„ Ich hatte mir schon so etwas gedacht, Alvion. Mir soll es Recht sein, denn ich beginne ohnehin schnell, mich zu langweilen. Und so schön ist Perlia auch wieder nicht! So sei es, morgen brechen wir auf, mit oder ohne Auftrag! Dann sollten wir uns jetzt aber allmählich zur Ruhe begeben, damit wir frisch und nicht verkatert sind!“
Am nächsten Morgen ließen wir den Wirt unserer Herberge abrechnen, bedachten ihn großzügig für seine Mühen und gingen dann in Richtung des Marktplatzes. Es war früh am Morgen und ziemlich kühl, sodass die Straßen Perlias beinahe menschenleer waren, als wir in die Stadtmitte gingen. Obwohl der Herbst noch nicht Einzug gehalten hatte, fröstelte ich leicht. Hin und wieder stieg mir der stinkende Rauch aus einem Kaminfeuer in die Nase, was mich zu einem Kopfschütteln veranlasste, denn so kalt, dass man heizen musste, war es auch wieder nicht. Der Himmel war trüb und grau und die kleinen Häuser, die die Straße säumten wirkten jetzt, mit geschlossenen Fensterläden, kalt und abweisend. Dennoch fühlte ich mich großartig, da es wieder losgehen würde, hinaus aus der engen Stadt in die unendlichen Weiten und ich empfand Freude und Aufregung, obwohl ich noch nicht einmal das Ziel der Reise kannte. Auf dem Marktplatz angekommen, betrachteten wir die einstmals prächtigen Gebäude, die dort standen, und blickten die breite, von früheren ostsolischen Königen angelegte, Prachtstraße hinunter. Direkt vor uns lag der alte Königspalast, wo nunmehr der Abgesandte des Königs residierte. Das gewaltige Gebäude war das größte und höchste der Stadt, und schon von weit außerhalb zu sehen. Einst hatte sich dieser Palast hinter keinem anderen, mit Ausnahme der Königsfestung in Vylaan, verstecken müssen. Rundum säumten riesige Säulen das Gebäude. In einem dahinter anschließenden Bauwerk war die große Bibliothek von Perlia untergebracht, gut bestückt und jedem Bürger frei zugänglich. Den Großteil der angrenzenden Häuser, die früher zum Palast gehört hatten, hatten Händler übernommen und unten ihre Läden eingerichtet, während sie selbst in den oberen Stockwerken wohnten. Um den Marktplatz, der sich direkt vor dem alten
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